Immer mehr Deserteure, immer mehr Tribunale: Putins Armee in miserablem Zustand
Frankfurter Rundschau
Russlands Invasionsarmee blutet offensichtlich aus. Neben immensen Verlusten bereiten vor allem Deserteure der Führung große Schwierigkeiten.
Moskau – Der Einzelne zählt wenig in der russischen Militärdoktrin. Als Grundlage militärischer Erfolge gilt allein die Masse der Soldaten. Das wird jetzt zum Problem für Moskau: Die Zahl derjenigen, die von der Fahne flüchten, steigt zusehends. Damit auch die Häufigkeit der Tribunale. Zuletzt schockierte das regimekritische Online-Magazin Mediazona mit zwei furchteinflößenden Zahlen.
Auf fast 50.000 gefallene russische Soldaten kommen die Journalisten; mit Hilfe des Exilmediums Meduza und des in Tübingen ansässigen Wahrscheinlichkeitsforschers Dmitry Kobak haben sie Statistiken über die militärischen Entwicklungen des Ukraine-Krieges ausgewertet und hochgerechnet. Ihre zweite, aktuell veröffentlichte Zahl, besagt, dass seit dem Auswertungszeitraum März 2023 wöchentlich 100 Urteile gegen russische Soldaten verhängt wurden – in den meisten Fällen wegen unerlaubten Entfernens von der Truppe – umgangssprachlich Desertion oder Fahnenflucht. Manche Urteile führten zur Bewährung zurück an die Front, andere enthielten Haftstrafen.
Laut dem im September 2022 verschärften Gesetz drohen bei Desertion bis zu 15 Jahre Haft, bei freiwilliger Gefangennahme durch den Gegner zehn Jahre. „Verrat ist das schwerste Verbrechen, und Verräter müssen bestraft werden“, sagte Russlands Präsident Wladimir Putin bereits 2019 nach dem Giftanschlag auf den russischen Systemgegner Sergej Skripal. Das Menschenbild in Russland widerspricht dem europäischen klar – das wurde vor allem in den Kriegen Russlands offensichtlich und ist jetzt überdeutlich: Als Stresstest für die Legitimation des Regimes hatte der deutsche Thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik den Ukraine-Konflikt bereits kurz nach dessen Ausbruch bezeichnet. Dessen Prophezeiungen sind eingetreten.
Die Forscher erwarteten, „dass die Invasion in der Ukraine noch stärker als bisher mit veralteten, hauptsächlich auf Masse beruhenden Konzepten von Kriegsführung fortgesetzt wird“, wie sie schrieben. Historiker hatten dieses Verhalten aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg als „Taktik der menschlichen Welle“ bezeichnet und damit das Überrennen des Gegners mit der schieren Zahl an mehr oder weniger gut ausgerüsteten oder mehr oder minder gut ausgebildeten Soldaten gemeint. Mit dem Eingraben der Russen vor der jetzt laufenden Gegenoffensive der Ukraine war dieses Konzept gescheitert.
Dieses Scheitern hatten verschiedene Konfliktforscher bereits nach Ausbruch des Krieges geahnt. Vor allem britische Forscher beobachteten Schlamperei in der Pflege der Ausrüstung, in der Disziplin und in der Führung – alles ein offensichtliches Zeichen der individuellen Gleichgültigkeit gegenüber der von Putin praktizierten Außenpolitik mit Gewalt. Auch die von den Russen veröffentlichte Papierform ihrer Streitmacht wich deutlich von der Realität ab, wie Wissenschaft und Politik darlegt: Mehr als 400.000 Männer wollten die Russen Anfang 2020 unter Waffen gehabt haben, ohne allerdings Belege dafür zu liefern. Deren Ausbildungsstand schätzten die deutschen Forscher aber ohnehin als gering ein, da auf die Verluste im Verlauf der Kämpfe stets hastige Rekrutierungsbemühungen folgten und dem individuellen Fronteinsatz kaum mehr als drei Wochen Ausbildung vorausgehen.