Holocaust und Kolonialismus – „Wir haben von den Dingen gewusst“
Frankfurter Rundschau
Anmerkungen von Norbert Frei, Saul Friedländer und anderen zu einem neuen Streit über den Holocaust.
Für Jürgen Habermas verschieben sich im Augenblick „die Gewichte“. Im früheren „Historikerstreit“ sei es Ernst Nolte über den Vergleich des Holocaust mit den Stalinschen Verbrechen darum gegangen, nachgeborene Deutsche von ihrer politischen Verantwortung zu entlasten.
„Wie alle historischen Tatsachen“, stellt Habermas gleich klar, könne man auch den Holocaust mit anderen Genoziden vergleichen. Grundsätzlich spreche heute nichts dagegen, Holocaust und andere Genozide miteinander in Beziehung zu setzen. Der Sinn des Vergleichs jedoch hänge vom Zusammenhang ab. Und von der Unterscheidung, die der Vergleich erst möglich macht: „Es waren die eigenen Bürger, die als subversive Gefahr erst kenntlich gemacht und schrittweise aus der eigenen Bevölkerung ausgegrenzt werden mussten, bevor sie in die Vernichtungslager abtransportiert wurden.“ Deshalb, bilanziert Habermas, spreche man beim Holocaust auch von einem einzigartigen Verbrechen, einem Zivilisationsbruch.
Im Grunde hat der große Philosoph mit seinen knappen Anmerkungen „zum neuen Streit über den Holocaust“, wie der Untertitel zu dem Sammelband „Ein Verbrechen ohne Namen“ heißt, überaus klar Position bezogen. Zu einer Auseinandersetzung, die augenblicklich von vielen – zumal von bundesrepublikanischen Historikern – als „quälend“, „zäh“, vor allem „unaufrichtig“ empfunden wird. Für die weitere Debatte kann man wohl nicht verzichten auf das, was der schmale Band auch mit Beiträgen von Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher und Dan Diner zu bieten hat, um sich Habermas präzise gehaltenes Anliegen an die Erinnerungskultur in Deutschland zu erschließen – in einem sich seit dem früheren Historikerstreit rasant wandelnden Land.
Erinnerungspolitisch „ist einiges in Bewegung“, merkt Norbert Frei zu den viel Wucht entfaltenden Thesen des australischen Historikers Dirk Moses an. Wohl nicht gerade zufällig am 23. Mai 2021, dem Jahrestag der Verkündigung des Grundgesetzes, habe Moses den Deutschen empfohlen, es sei nun an der Zeit, von jenem „Katechismus“ Abschied zu nehmen, der ihnen die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch vorschreibe und der zudem Vergleiche ausschließe. Moses beharre darauf, den Holocaust in einen historischen Zusammenhang zu stellen, hebt Frei hervor, denn „er soll gegenüber anderen Genoziden relativiert werden“.
Vergleichen geht für Frei dem Verdrängen voran. Es gebe das stete Bemühen um Schuldabwehr. Diese reiche zurück bis in die Schlussphase des Krieges: Damals seien die Deutschen „mit der verbrecherischen Wirklichkeit der gerade befreiten Konzentrationslager in ihrer Nachbarschaft“ konfrontiert worden. 1952 habe sich der damalige Bundespräsident Theodor Heuss in einer Rede „dem offensiven Vergessenwollen der post-nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“ entgegengestellt, indem er erklärte: „Wir haben von den Dingen gewusst.“