
Hektor Haarkötter: „Notizzettel“ – Für sich selbst schreiben
Frankfurter Rundschau
Hier bin ich, murmelt das Notat alleine jener Person zu, die es niedergeschrieben hat: Zu Hektor Haarkötters Erforschung des Notizzettels. Von Hanns-Josef Ortheil
Hektor Haarkötters große Studie über den Notizzettel ist ein Buch, das man auf verschiedene Weise lesen kann. Zunächst als die erste Kulturgeschichte des Notierens, von den Anfängen bis in die digitale Gegenwart. Dann als Fortsetzungsgeschichte der Praktiken großer Notierer wie Leonardo da Vinci, Georg Christoph Lichtenberg oder Ludwig Wittgenstein. Schließlich aber auch als Analyse besonderer Denkfiguren, die sich in nur scheinbar harmlos und flüchtig wirkenden Notaten abzeichnen. Solche bisher wenig gedeuteten Zeichen sind es wert, genauer erforscht zu werden, nähert man sich dabei doch Konstellationen von Kreativität, die etwas ungeahnt Eigenes haben und uns mit sehr besonderen Techniken des Schreibens vertraut machen.
Als Professor für Kommunikationswissenschaft an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg mustert Haarkötter in seinen einleitenden Kapiteln den Notizzettel als kommunikative Form. Wie kommuniziert ein Notat? Und mit wem? Erstaunt stellt der Wissenschaftler fest, dass der Notizzettel ein fast autistisches Medium ist. Wir notieren vor allem für uns selbst, indem wir einen Einfall oder einen Gedanken festhalten.
Das Notat wendet sich also zunächst an niemanden „da draußen“, sondern an das Drinnen des Schreibers selbst. Hier bin ich, murmelt das Notat, Du hast mich in die Welt geworfen, jetzt mach weiter, fang etwas mit mir an!
Haarkötters Erstaunen wird aber noch größer, wenn er zugeben muss, dass wir notieren, um das Notierte abzulegen und zu vergessen und damit zum nächsten Einfall oder Gedanken überzugehen. Das Notat ist also eine meist versteckt bleibende, erregte Form des Schreibens, das nach Fortsetzung verlangt.
Genau dieses Verlangen war und ist so heftig, dass es nie gestillt werden kann. Wer notiert, schreibt ohne geplanten Anfang und ohne Ende. Und das „Werk“, das dabei entsteht, verweigert sich auf empörende Weise den uns vertrauten Werkkategorien. Es nimmt nirgends Gestalt an, sondern erscheint wie ein Strom oder Fluss, den keine Schleusen fassen und lenken.