Gastkommentar: Russlands Triumph der Unberechenbarkeit
DW
30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion liegt Russland noch immer auf den Knien. Aber Wladimir Putin hat es geschafft, dass der Westen vor dem Land zittert, meint Viktor Jerofejew.
Das neue Russland wurde kurz vor Silvester geboren - am 26. Dezember wird es 30 Jahre alt. Die Entbindung ähnelte formal einer Loslösung von der Sowjetunion. In Wirklichkeit lösten sich aber die ehemaligen Sowjetrepubliken von Moskau und dem russischen Kern des Großreiches. Sie rannten in unterschiedliche Himmelsrichtungen davon, und auf der Landkarte, sich groß und breit von Ozean zu Ozean erstreckend, verblieb Russland als Nachfolgerin der UdSSR.
Indessen weiß heutzutage ein Fünftel der jungen Leute in Russland nicht einmal mehr, was die UdSSR war oder ist sich zumindest unsicher über die Bedeutung dieser Buchstaben. Wenn man bedenkt, dass die UdSSR eine totalitäre Supermacht war mit wahnsinnigen imperialen Ambitionen, der globalen kommunistischen Utopie, einer armen Bevölkerung, die sich gleichsam gegen Gott versündigt und weder Freiheit noch Wurst hatte, dann ist es womöglich ja gar nicht so schlecht, wenn man diese Vergangenheit mit Einparteiensystem und Gulag einfach ein für allemal vergisst. Im Frankreich der 1950er-Jahre zeichnete sich die Jugend ja auch nicht gerade durch ein gutes Gedächtnis aus: "Hitler? Connais pas." ("Hitler? Nie gehört.")
Doch es gibt, wie man in der Sowjetunion zu sagen pflegte, zwei riesige Unterschiede.
Frankreich kehrte zurück zur Demokratie und beeilte sich, das Elend der Besatzung aus dem Alltagsgedächtnis zu streichen. In Russland droht mit dem historischen Gedächtnisverlust die Versuchung, zu einer ruhmreichen Geschichte zurückzukehren, die es so nie gegeben hat. Man braucht sie nur schön auszumalen, dann leben wir wieder in einer imaginären starken Supermacht, aufs Neue fürchten und respektieren uns alle, und wir dagegen fürchten niemanden.
Anfang der 1990er-Jahre wollte sich Russland erstmals von seiner sowjetischen Vergangenheit losreißen, verhedderte sich jedoch schlimm in seinem Gewand und stürzte krachend zu Boden. Gehirnerschütterung! Von der einen Seite bemühten sich demokratische Ärzte um Heilung, indem sie ihm alle möglichen europäischen Kuren wie Marktwirtschaft und ein Mehrparteiensystem verordneten. Von der anderen Seite tauchten sehr bald schon nationalkommunistische Ärzte mit UdSSR-Nostalgie auf.