Freie Radikale
Süddeutsche Zeitung
Herausragendes von Emile Parisién, Identitätspolitik von Joy Guidry und ein wieder aufgelegtes Meilensteinalbum von Jeanne Lee: die neuen Jazz-Alben.
Es ist schon ein Verdienst des Bildungs- und Förderwesens in Europa und Amerika, dass sich das Handwerk in der Musik auf ein enormes Niveau entwickelt hat. Ausnahmemusiker gab es immer, aber die Qualität, die inzwischen auch in der zweiten und dritten Reihe Standard ist, hat nun auch dazu geführt, dass es nicht nur bei den traditionellen Instrumenten der ersten Reihe Stars gibt. Neue Stimmen rühren sich auch bei Instrumenten, die eher schwierig zu meistern sind im Jazz. Die gibt es bei der Harfe (Brandee Younger), der Tuba (Theon Cross) und dem Cello (Tomeka Reid). Aber auch bei den schwierigen Saxofonen, wie dem Alt (Immanuel Wilkins) und mit Emile Parisién beim problematischen Sopran, das meist als Zweitinstrument der großen Tenorspieler auftaucht.
Emilie Parisién "Louise".
Emile Parisién war schon mit elf am Collège de jazz in Marciac, studiert dann am Konservatorium von Toulouse. Der hat jetzt ein Sextett zusammengestellt, mit dem er zeigen kann, was für eine Kraft man in das oft so schmale Klangbild seines Instruments legen kann. Mit dem hat er nun das Album "Eloise" (Act) veröffentlicht, seine bisher stärkste und in dieser Saison überhaupt herausragende Platte. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er mit dem Trompeter Theo Croker einen Sparringspartner gefunden hat, der ihn fordert, an seine Grenzen zu gehen.
Von der titelgebenden Ballade über die dreiteilige "Memento"-Suite bis zum Teufelsritt "Jojo" stellt sich da eine Gruppe vor, die bei den im Sommer hoffentlich wieder stattfindenden Touren und Festivals ganz schön abräumen dürfte. Parisién und Croker bilden da über der Rhythmusgruppe und der sphärischen Gitarre von Manu Codija eine Front, in der sich die Solisten die Ideen zuspielen, als gelte es den Grand Slam zu gewinnen.
Auch Enrico Rava hat sein Quintett für sein neues Album "Edizione Speciale" (ECM) um einen Gitarristen erweitert. Rava zeigt sich bei der Live-Aufnahme von seiner abenteuerlichen Seite. Francesco Diodati wagt sich da mit seiner Gitarre vom Splitter-Solo bis zum elektronischen Noise weit vor, um dann gemeinsam mit der Gruppe zur absoluten Harmonie zurück zu finden. Und wenn man das frenetische Publikum und die Zwischenrufe der Musiker richtig deutet, war der Abend in Antwerpen für alle Beteiligen ein Befreiungsmoment.