Frankfurt: Märchenstunde eines Messerstechers
Frankfurter Rundschau
Ein angeklagter Gambier erzählt Märchen über seine vermeintliche Fluchtgeschichte und hofft auf Milde.
Frankfurt - Das Handy ist in zweierlei Hinsicht besser als der Mensch. Es lügt nicht. Und wenn es nervt, kann es stummgeschaltet werden. Abdulwahab H. kann auch auf stumm schalten, aber nur, was die Anklage betrifft, die auf versuchten Totschlag lautet. Am Nachmittag des 18. Oktober 2020 soll der 23 Jahre alte Mann aus Gambia bei einem Streit zwischen zwei Gruppen in der Niddastraße einem 24-Jährigen aus Guinea ein Messer mit solcher Wucht in den Bauch gerammt haben, dass dessen innere Organe nach außen drängten. Das sind Momente, in denen normalerweise Freund Hein vorbeischaut, in diesem Fall aber ein pensionierter Arzt, der zufällig in der Nähe war und dem Verletzten mit beherztem Eingriff das Leben rettete. Die Auswertung von H.s Handy-Chats legt nahe, dass es sich bei ihm um einen professionellen Dealer handelt – was sein Vorstrafenregister untermauert – und der Messerstich aus einem Dauerkonflikt mit einer „Fula-Boys“ genannten Clique resultiert, die mit H.s Clique ethnische und geschäftliche Differenzen hat. H. will das weder bestätigen noch dementieren. Dafür erzählt er dem Gericht die Geschichte seines Lebens. Sie handelt von Tod und Verlust, aber auch von Hoffnung und Erlösung und zieht alle in ihren Bann. Er sei sechs Jahre alt und Einzelkind gewesen, als seine Eltern eines mysteriösen Todes gestorben seien. Er habe sich als Bettler und Gemüsehändler durchgeschlagen. Oftmals hätten ihn bewaffnete Araber zu Arbeit und/oder Drogenkonsum gezwungen – eines der beiden Laster ist er bis heute nicht losgeworden. Manchmal hätten ihm aber auch Wildfremde viel Geld in die Hand gedrückt und geraten, in ein anderes Land zu fliehen; etwas Besseres als den Tod finde er überall. So sei er von Land zu Land gewandert und gesegelt. Zweimal hätten ihn die Fluten des Mittelmeers verschlungen, einmal zu seinem Unmut an libysche, dann zu seiner Freude an italienische Gestade gespült. Dort habe ihn ein Ruf seiner Freunde ereilt, die mittlerweile ihr Glück in Frankfurt gefunden hätten. Dort angekommen, habe er auch zahllose Cousins und Cousinen von Nebenfrauen seines Vaters selig gefunden. Und seinen lieben Großvater im nahen Maintal.More Related News