
Fortan in der ersten Person Singular
Frankfurter Rundschau
Philipp Sarasins „1977“ rekonstruiert ein epochales Jahr. Viele der Ereignisse sind von beunruhigender Gegenwärtigkeit.
Nicht mehr allzu lange und man werde in den Städten wohl Masken tragen müssen, Gasmasken. Für die Dekade waren Hungerkatastrophen angekündigt, Umweltzerstörungen, soziale Explosionen, der urbane Kollaps, im Rüstungswettlauf der Supermächte der GAU. So apokalyptisch die Stimmung, gab es doch immerhin etwas zu singen, vor allem im Pop, etwa für David Bowie, wenn er orakelte: Fünf Jahre noch. Die Zeile, 1972 entstanden, sprach von einer verbleibende Fünf-Jahre-Frist – ließ sich dann aber 1977 noch singen, mitsingen.
Wie das? War der Song allenfalls Horoskop, der angekündigte Horror eine Spielerei bloß? „Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ nennt der Schweizer Historiker Philipp Sarasin sein Buch „1977“ im Untertitel. Binnen zwölf Monaten sah sich die Welt „Gleichzeitigkeiten ohne Zusammenhang“ ausgesetzt. Den Voyager-Expeditionen in den Weltraum, den Mordserien der RAF, dem Aufkommen des Hip Hop, der Deklaration der Menschenrechte durch den US-Präsidenten Jimmy Carter, der Eröffnung des Pariser Centre Pompidou, der Gründung der Zeitschrift „Emma“, dem Debüt des Punk und der Apple-II-Marketingoffensive. Angesichts dieses „Geflechts“ von Gleichzeitigkeiten steigerte sich die Erfahrung einer beunruhigenden Unübersichtlichkeit, zumal 1977 das Jahr des Auftritts des Internets war – weiteres Indiz für eine „irritierende Gegenwärtigkeit“.
Was an Disparatem geschah, hatte eine Gemeinsamkeit: die Schwächung des Allgemeinen, an die Stelle der Solidarität mit umfassenderen Normen traten, so Sarasin in Anlehnung an Andreas Reckwitz, „Singularitäten“. Mit ihnen artikulierten sich partikulare Interessen, und sie taten es so selbstbewusst wie selbstverliebt, bis hin zur Selbstfeier.