Flucht in die Krisenzone
Süddeutsche Zeitung
Warum der skandalgeplagte britische Premier Boris Johnson ausgerechnet jetzt in die Ukraine reist.
Der britische Premier Boris Johnson hat sich bisher nicht oft als Staatsmann und Außenpolitiker profiliert. Heimische Probleme hat er genug, die Pandemie schränkt Reisen ein, und Lust auf Versöhnungsfahrten zu den EU-Partnern von einst hat der Brexit-Premier offenbar auch nicht. Es ist also von besonderer Würze, dass Johnson ausgerechnet zum vorläufigen Höhepunkt seiner eigenen innenpolitischen Krise in Europas militärisches Krisengebiet reist, um der Ukraine die Unterstützung Großbritanniens zu versichern.
Am Dienstag traf Johnson mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij in Kiew zusammen. Dritter im Bunde war Polens Premier Mateusz Morawiecki. Die Botschaft der koordinierten Besuche war klar: Hier kommen die treuesten Unterstützer des Landes, die anders als Frankreich oder Deutschland auch Waffen liefern. Die Briten hatten in den vergangenen Tagen 3000 Anti-Panzer-Waffen geschickt, inklusive 30 Ausbilder für die Ukrainer. Rechtzeitig zu Morawieckis Besuch boten auch die polnischen Streitkräfte "defensive Waffen" an, schultergestützte Luftabwehrraketen vom Typ Grom.
Außenminister Lawrow wirft dem Westen in einem Brief die einseitige Auslegung wichtiger Sicherheitsabkommen vor und verlangt eine Klarstellung. Die Reisediplomatie läuft auf Hochtouren. Von Stefan Kornelius
Die britische Ukraine-Politik ist schillernd und laut - seit Wochen bereits überbieten sich Außenministerin Liz Truss und Verteidigungsminister Ben Wallace in dramatischen Schilderungen der Situation und aktionsgeladener Politik. Truss ließ sich in Estland in der Nähe der russischen Grenze mit Stahlhelm und Tarnfleck auf einem Panzer und unter dem wehenden Union Jack fotografieren. Ähnlichkeiten mit den Panzerbildern der legendären Eisernen Lady Margaret Thatcher, die die Briten in den Falkland-Krieg geführt hatte, dürften durchaus beabsichtigt gewesen sein.
Und Wallace rüttelte in einem aufsehenerregenden Artikel die Nato wach und warnte in markigen Worten vor der russischen Gefahr, um gleich darauf ein Treffen mit Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu anzukündigen - das dann allerdings doch nicht zustande kam. Beide, Wallace wie Truss, gelten in der innerbritischen Regierungskrise als potenzielle Nachfolger Boris Johnsons.