
Finanzsanktionen gegen Taliban unmenschlich?
DW
Angesichts der Not in Afghanistan müssten gesperrte Finanzmittel freigegeben werden, fordert die Organisation IRC. Das sieht die Bundesregierung anders.
Hilfswerke schlagen Alarm: Die humanitäre Lage in Afghanistan verschlechtere sich dramatisch, dem Land drohe eine Hungersnot. In wenigen Monaten könnten bis zu 38 Millionen Menschen in Afghanistan - das sind rund 97 Prozent der Bevölkerung - unter der internationalen Armutsgrenze leben, sagt Ralph Achenbach, der Geschäftsführer der deutschen Sektion der humanitären Organisation "International Rescue Committee" (IRC), im Gespräch mit der DW. Nach der Definition der Weltbank sind diese Personen nicht in der Lage, sich täglich die Menge an Gütern zu kaufen, die in den USA 1,90 US-Dollar kosten würden. Bereits jetzt sei über die Hälfte der Bevölkerung von Ernährungsunsicherheit betroffen. "Die Menschen wissen also nicht, wo sie die nächste Mahlzeit herbekommen."
Auch Christian Schneider, der Geschäftsführer von UNICEF Deutschland, warnt vor der wachsenden Armut und einem drohenden nationalen Notstand in Afghanistan. Die humanitäre Katastrophe treffe inzwischen 13 Millionen Kinder, schrieb Schneider vergangene Woche in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung".
Das IRC, dessen Projekte etwa in Syrien auch von der Bundesregierung unterstützt werden, appelliert nun an letztere, den wirtschaftlichen Kollaps in Afghanistan durch mehrere Maßnahmen zu verhindern. Unter anderem solle sie die in deutschen Banken eingefrorenen afghanischen Vermögenswerte freigeben; einen Runden Tisch mit den wichtigsten Geldgebern einzusetzen, um langfristige Finanzierungsmechanismen zu entwickeln; die Weltbank und internationale Partner dazu auffordern, zugesagte Mittel von 1,2 Milliarden US-Dollar des Treuhandfonds für den Wiederaufbau Afghanistans (ARTF) auszuzahlen. Auch solle Berlin versuchen zu klären, ob sich die Sanktionen gegen Einzelpersonen oder gegen die gesamte Regierung der Taliban richten.
Die derzeitige Lage sei in vielerlei Hinsicht eine menschengemacht Katastrophe, begründet Ralph Achenbach im DW-Gespräch vom IRC den Appell. "Der wirtschaftliche Rückzug, der auf den militärischen Rückzug Ende August gefolgt ist, hat verheerende Auswirkungen auf die afghanische Volkswirtschaft und Bevölkerung. Dazu gehört das Einfrieren der Entwicklungshilfe, wodurch quasi 75 Prozent im Staatsbudget weggefallen sind." Darum könnten Ärzte, Lehrer und Beamte nicht mehr bezahlt werden.
"Das geht auch auf das Einfrieren afghanischer Vermögenswerte im Ausland inklusive in Europa zurück, was die Liquidität letztlich trockengelegt hat", ergänzt George Sebbunya, Programmdirektor des IRC in Afghanistan. "Die Covid-Pandemie und die Dürre - die schlimmste seit 27 Jahren - verschärfen die Lage zusätzlich."