Experte: Mehr Beratungsbedarf zu Alltagsrassismus
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Drei Jahre nach dem Hanauer Anschlag mit neun Toten bleibt der Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus aktuell. Immer mehr Menschen melden rassistische Vorfälle, und demokratiefeindliche Strömungen haben Zulauf, warnt der Leiter des Demokratiezentrums Hessen.
Marburg/Hanau (dpa/lhe) - Die Zahl der Menschen, die nach rassistischen Vorfällen Rat suchen, hat nach Experteneinschätzung bundesweit und auch in Hessen in den vergangenen zwei bis drei Jahren spürbar zugenommen. Das dürfte auch daran liegen, dass solche Vorfälle, von denen sehr viele Menschen betroffen seien, mittlerweile klarer gesehen und benannt würden, sagte Reiner Becker, Leiter des an der Philipps-Universität Marburg angesiedelten Demokratiezentrums Hessen, der Deutschen Presse-Agentur. Für Becker steht das auch im Zusammenhang mit der Aufarbeitung und Debatte über Taten wie den rassistische Anschlag in Hanau, der sich an diesem Sonntag (19. Februar) zum dritten Mal jährt.
"Diesen Morden liegen Einstellungen und Vorurteile zugrunde, die weit verbreitet und nicht abstrakt sind", sagte Becker. Umso wichtiger sei die Arbeit, die Initiativen nicht nur in Hanau, sondern auch bundesweit leisteten, um auf das Thema aufmerksam zu machen. "Die Initiativen sind der Stachel im Fleisch. Wir leben in einer Gesellschaft, die diesen Stachel braucht", sagte Becker. In Hanau hatte am 19. Februar 2020 ein 43-jähriger Deutscher neun Menschen aus rassistischen Motiven erschossen. Danach tötete er seine Mutter und sich selbst. Hinterbliebene und Überlebende hatten sich in einer Initiative zusammengeschlossen, die für eine lückenlose Aufklärung der Tat und Konsequenzen eintritt.
Aus Sicht Beckers war dieser Zusammenschluss der Opfer-Angehörigen ein wesentlicher Schritt, den es in dieser Form bei anderen rassistischen Taten wie dem Brandanschlag in Mölln im Jahr 1992 oder dem Anschlag in Halle im Jahr 2019 nicht gegeben habe. Er habe den Stimmen und Perspektiven der Betroffenen eine breite Resonanz ermöglicht. Wenn der Jahrestag am Sonntag mit Gästen und medialer Aufmerksamkeit in Hanau begangen werde, dürften die anderen 364 Tage des Jahres nicht in Vergessenheit geraten, an denen Hinterbliebene und Betroffene je nach individueller Situation womöglich auf sich selbst zurückfallen, Begleitung benötigen - ob durch therapeutische Hilfen, bei Behördengängen, persönlichen Begegnungen oder Gesprächen. Deshalb seien aktuell und weiterhin lokale und niedrigschwellige psychosoziale Beratungsangebote in Hanau erforderlich, sagte Becker. Auch der Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags habe eine "Überforderung aller Systeme" durch die Tat und ihre Folgen verdeutlicht.