EU: Strategische Autonomie in weiter Ferne
DW
In einer Welt voller Krisen und mit abnehmender Unterstützung aus den USA wollen die EU-Länder eigenständiger auftreten. Das ist leichter gesagt als getan.
Ein kollektiver Seufzer der Erleichterung war in Berlin und in Brüssel zu hören, als im November das Ergebnis der Zwischenwahlen in den USA bekannt wurde: Die Machtverschiebung im Kongress hin zu den Republikanern fiel geringer aus als befürchtet, und der ehemalige Präsident Donald Trump ist angeschlagen aus ihnen hervorgegangen. Unter Trump war das transatlantische Verhältnis an einem Tiefpunkt angelangt.
Doch die Europäer sollten sich nicht zu früh freuen, glaubt Thorsten Benner, Direktor des Global Public Policy Institute in Berlin. In einem Gastkommentar für die Deutsche Welle schrieb Benner nach den Wahlen: "Joe Biden wird vermutlich als letzter Transatlantiker im Weißen Haus in die Geschichte eingehen." Die Zeit großzügiger sicherheitspolitischer Unterstützung sei bald vorbei, egal, wer künftig im Weißen Haus sei, schon deshalb, weil sich die USA in Zukunft viel mehr auf China konzentrieren würden.
Ein Amerika, das sich langsam abwendet von Europa, eine immer aggressiver auftretende Weltmacht China und jetzt Putins Russland, das einen unabhängigen europäischen Staat ohne Grund überfällt – das ist die neue ungemütliche geopolitische Lage, in der sich die Europäer wiederfinden.
Der Ukraine-Krieg kam für fast alle überraschend, aber die anderen beiden Entwicklungen sind keineswegs neu. In der EU und in verschiedenen Hauptstädten hat man bereits Schlüsse daraus gezogen. Als Antwort hat sich der Ausdruck "strategische Autonomie" eingebürgert. Damit ist gemeint, dass die EU militärisch, politisch und wirtschaftlich unabhängig von anderen weltpolitischen Akteuren handeln kann.
Josep Borrell, der Außenbeauftragte der EU, hat in einem Aufsatz geschrieben, Europa drohe "irrelevant" zu werden. Er argumentiert mit dem abnehmenden Gewicht Europas in der Welt: "Vor dreißig Jahren entfiel ein Viertel des weltweiten Wohlstands auf unseren Kontinent. In 20 Jahren wird unser Anteil an der weltweiten Wirtschaftsleistung höchstens 11 Prozent betragen." Strategische Autonomie sei "eine Frage des politischen Überlebens".