EU eröffnet Verfahren gegen Ungarn
DW
Erstmals hat die EU ihren Rechtsstaatsmechanismus in Gang gesetzt - gegen Ungarn. Damit drohen dem Land empfindliche finanzielle Sanktionen. Warum? Und wie funktioniert der Mechanismus genau?
Jahrelang war es in der Europäische Union eines der größten Streitthemen: Wie soll die EU mit Regierungen von Mitgliedsländern umgehen, die demokratische Grundwerte systematisch verletzen und den Rechtsstaat in ihren Ländern demontieren? Rund ein Jahrzehnt dauerte die Debatte, dann einigte man sich in Brüssel schließlich auf den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus, der Anfang 2021 in Kraft trat.
Nach einer Klage Ungarns und Polens gegen dieses Instrument dauerte es nochmals gut ein Jahr, bis der Europäische Gerichtshof (EuGH) den Mechanismus im Februar 2022 für vereinbar mit EU-Recht und damit für rechtswirksam erklärte. Nun wird er erstmals tatsächlich angewendet: gegen Ungarn, jenes EU-Land, das wegen der antidemokratischen Umgestaltung unter der Regierung von Premier Viktor Orban seit 2010 die Rechtsstaatsdebatte in der EU überhaupt erst ausgelöst hatte.
Am Mittwoch (27.04.2022) verkündete EU-Vizekommissionspräsident Margaritis Schinas nun in Brüssel, dass die EU-Kommission gegen Ungarn ein Verfahren gemäß dem Rechtsstaatsmechanismus eröffnet hat. Die wichtigsten Gründe sind zahlreiche Verdachtsmomente für Korruption und Unregelmäßigkeiten bei öffentlichen Ausschreibungen sowie eine Gefährdung der Unabhängigkeit der Justiz.
Deshalb könnte Ungarn mit sehr empfindlichen finanziellen Sanktionen belegt werden. Konkret droht unter Umständen der Verlust von hunderten Millionen Euro an EU-Fördergeldern. Da sie ökonomisch lebenswichtig sind und jährlich bis zu vier Prozent des Bruttosozialprodukts ausmachen, könnte ihr Entzug ein Mittel sein, den Rechtsstaatsabbau durch die Orban-Regierung zu stoppen. Darauf jedenfalls hoffen Kritiker des ungarischen Premiers.
Was zunächst einfach klingt, ist bei genauerem Hinsehen kleinteilig und kompliziert. Erst einmal schickt die EU-Kommission nun einen Brief an die ungarische Regierung, in dem sie ihre Besorgnis über Rechtsstaatsverletzungen im Land ausdrücken und Fragen stellen wird. Konkret geht es zum einen um systematische Unregelmäßigkeiten bei öffentlichen Ausschreibungen. Oft sind es Personen aus dem familiären und Freundeskreis des Premiers Orban oder aus seiner Partei Fidesz, die staatliche Aufträge erhalten. Häufig sind dabei EU-Gelder im Spiel.