Emmanuel Carrère „Yoga“: Der Abgrund seines eigenen Ichs
Frankfurter Rundschau
Emmanuel Carrère trifft in seinem Roman „Yoga“ auf eine zu tiefen Kluft, um gewohnt leichtfüßig darüber hinwegzuerzählen.
Wer gebannt in die Schluchten menschlicher Leidenschaften blicken wollte, war bei dem französischen Autor Emmanuel Carrère immer an der richtigen Adresse: In seinen Romanen erzählte dieser verlässlich von extremen Erfahrungen und unglaublichen Katastrophen – die Themen stets groß und gewaltig. So schilderte er die Verwüstungen eines Tsunamis, den er während eines Urlaubs zufällig miterlebte („Alles ist wahr“), oder das Leben eines pathologischen Hochstaplers, der schließlich seine ganze Familie auslöscht („Der Widersacher“).
Er erschuf Abbilder der Wirklichkeit, die mitreißen, manchmal Reportagen zum Verwechseln ähnlich und doch kühner, existenzieller, persönlicher. Er berichtete mit Lust von den düsteren Seiten des Menschseins (immer auch seines eigenen), doch er trug seine Leserinnen und Leser mit einer geschliffenen Sprache so leichtfüßig darüber hinweg, dass Abgründe nicht mehr wie Abgründe erschienen, sondern wie hochspannende, lebendige Episoden. Wer Carrère als diesen Erzähler kennt, kommt nach der Lektüre seines neuen Romans „Yoga“ um eine anfängliche Enttäuschung nicht herum.
Denn „Yoga“ hat kein großes Thema. Der Roman erzählt eher lose aus dem Leben des Autors und gleicht eher einer Sammlung von Bruchstücken. Wiedererkennbar ist allerdings sofort der autofiktionale Habitus: Mit der typischen ausgestellten Ehrlichkeit und reflektierten Eitelkeit erzählt Carrère zunächst von einem zehntägigen Yoga-Schweigeretreat in der französischen Provinz.
Ohne Handy und mit dem Vorsatz, Stoff für „ein heiteres und feinsinniges Büchlein über Yoga“ zu sammeln, genießt der Autor eine seltene positive Phase seines Lebens. Er liebäugelt gar in ausschweifenden Introspektionen mit der Vorstellung, ein weiser Mann zu werden, der geduldig „auf einen Zustand der Gelassenheit und des Staunens“ hinwirkt.
Schon hier mag man stutzig werden: Der Autor menschlicher Abgründe auf dem Weg ins Nirvana der Gleichmütigkeit? Kaum zu glauben, und tatsächlich kommt es doch recht schnell zur Carrère-typischen Katastrophe. Der Autor muss sein Schweigeseminar abbrechen, denn während er meditierte, erlebte Paris die brutalen „Charlie Hebdo“-Anschläge. Dabei stirbt ein enger Freund Carrères, Bernard Maris, für den er nun die Trauerrede halten soll.