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Druck auf die EU: Erdogan nutzt Ukraine-Krieg für eigene Ziele
Frankfurter Rundschau
Als Vermittler im Ukraine-Krieg wittert Erdogan seine Chance: Die Rolle könnte dem türkischen Präsidenten die Macht sichern – eine Analyse.
Ankara - Wer hätte das gedacht? Die Türkei, vor kurzem noch kritisiert wegen massiver Menschenrechtsverletzungen, der Errichtung einer Autokratie und militärischer Aggressionen gegen ihre Nachbarn – sie steigt plötzlich zur gefragten Vermittlerin zwischen Russland und der Ukraine auf.
Für den türkischen Langzeitherrscher Recep Tayyip Erdogan ist der Krieg in Osteuropa ein unverhofftes politisches Lebenselixier. Es muss diesem politischen Chamäleon ähnlich vorkommen wie der Putschversuch 2016, der ihm half, seine Herrschaft zu sichern und den er deshalb noch während der Kämpfe ein „Geschenk Gottes“ nannte. Allerdings wird er mittelfristig seinen Balanceakt zwischen Russland und Nato aufgeben und sich für eine Seite entscheiden müssen.
Bereits jetzt ist erkennbar, dass der Westen angesichts der russischen Bedrohung wieder auf Erdogan zugehen und ihn stützen wird, um die Südostflanke der Nato in Europa abzusichern, denn derzeit wird jeder Verbündete gegen Russland gebraucht. Deshalb bemühen sich die Nato-Partner offensiv um den ungeliebten Autokraten in Ankara. US-Präsident Joe Biden hat stundenlang mit Erdogan telefoniert, Bundeskanzler Olaf Scholz machte ihm seine Aufwartung.
Einhellig begrüßten Washington, Brüssel, Berlin und Paris die von der Türkei vermittelten Verhandlungen zwischen den ukrainischen und russischen Außenministern im Küstenort Antalya. Die Menschenrechtsfrage wird gerade noch pflichtgemäß gestreift, die Bombenangriffe Ankaras auf kurdische Dörfer und Städte in Syrien und im Irak sind kein Thema mehr.
Das westliche Kalkül ist angesichts der neuen Bedrohungslage rational und knüpft an die Strategien im Kalten Krieg an, als die Türkei ein unverzichtbarer Nato-Frontstaat zur Sowjetunion war und selbst nach ihrer Invasion Nordzyperns 1974 nur halbherzig sanktioniert wurde. Wie damals gilt, dass Ankara nicht nur die zweitgrößte Armee des Bündnisses unterhält, sondern mit den Dardanellen und dem Bosporus auch den strategisch wichtigen Zugang zum Schwarzen Meer kontrolliert.