
Documenta-Debatte: Die falschen Kämpfe
Frankfurter Rundschau
Eine andere Antisemitismus-Definition ist nötig. Sonst droht ein Bumerang-EffektVon Shimon Stein und Moshe Zimmermann
Im Kampf gegen den Antisemitismus befindet sich Deutschland auf dem Holzweg. Dieser Weg ist deshalb gefährlich, weil er im Endeffekt in das Kontraproduktive führt. Das veranschaulicht zum wiederholten Mal die nun entfachte Debatte um Antisemitismus in der Documenta fifteen. Grund genug, um eine Kurskorrektur vorzuschlagen.
Stein des Anstoßes für den gegen den Documenta-Vorstand erhobenen Antisemitismusvorwurf war die Einladung einer palästinensischen Künstlergruppe aus Ramallah, die mit einem nach Khalil al-Sakakini benannten Kulturzentrum kooperiert. Der Name Sakakini, eines palästinensischen Nationalisten, der bereits vor 70 Jahren starb und im Kampf gegen den Zionismus auch für das Dritte Reich Sympathien offenbarte, reichte aus – ohne Bezug auf die Kunstgegenstände, die diese Künstlergruppe präsentieren soll – den Antisemitismusvorwurf gegen die Documenta in die Welt zu setzen. Bekräftigt wurde der Vorwurf durch die vermutete Nähe der Gruppe zur BDS-Bewegung, was seit dem Bundestagsbeschluss vom 17. Mai 2019 quasi automatisch als Beweis für eine antisemitische Haltung gilt.
Den Urhebern des Vorwurfs, dem Kasseler „Bündnis gegen Antisemitismus“, ist offensichtlich nicht bekannt, dass in Jerusalem, im arabischen Teil der Hauptstadt Israels, es nicht nur eine Sakakini-Straße, sondern auch eine Sakakini-Schule gibt. Die Kasseler Alarmrufer sind offensichtlich päpstlicher als der Papst, empfindlicher als die Jerusalemer.
Doch es geht um mehr als nur um diese Marginalie, es geht um das Grundsätzliche, um die Definition des Begriffs Antisemitismus. Nicht nur die protestierenden Kasseler, nicht nur die Entscheidungsträger im Fall Mbembe vor der Ruhrtriennale 2020, nicht nur diejenigen, denen die „Welcome to Jerusalem“-Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin 2017 ein Dorn im Auge war, sondern auch die Verfasser des Bundestagsbeschlusses vom Mai 2019 scheinen ihre Probleme mit der Definition zu haben, bzw. Wichtiges vom Unwichtigen nicht unterscheiden zu können, und sind so zu Opfern der deutschen Angst vor dem oft instrumentalisierten und politisierten Antisemitismusvorwurf geworden.
Ja, seit spätestens 2016 wird immer wieder die „Arbeitsdefinition“ der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) als maßgebliche Richtschnur herangeführt, als habe es vorher keine fundierten Definitionen gegeben. Der Wortlaut klingt jedoch vage: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die im Hass auf Juden Ausdruck finden kann“. Weniger vage ist zwar die Definition der JDA (Jerusalemer Deklaration über Antisemitismus): „Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische)“. Doch beinhalten beide Formulierungen, beide von Experten verfasst, den Schlüssel zur Antwort auf die Frage, ob Documenta Fifteen dem Antisemitismus nahe steht, noch nicht.