Die Verletzlichkeit der Athleten
Süddeutsche Zeitung
Es wird oft übersehen, wie stark der Sport die Psyche der Athleten belastet. Doch das Beispiel der gestolperten Ski-Favoritin Mikaela Shiffrin zeigt, dass einiges in Bewegung gerät.
Das Erstaunlichste an den ersten Auftritten der Skirennfahrerin Mikaela Shiffrin bei diesen Winterspielen waren nicht ihre völlig überraschenden Fehler, deretwegen sie es in zwei Rennen nur auf rund ein Dutzend Tore und einige Sekunden Fahrzeit brachte. Das Erstaunlichste waren die 45 Minuten nach ihrem Aus im Slalom, einer Disziplin, die die Amerikanerin in den vergangenen Jahren auf zum Teil absurde Art dominierte.
Eine Dreiviertelstunde lang sprach Shiffrin in TV-Kameras, Radiomikrofone, Aufnahmegeräte. Wäre Radio Eriwan in Peking präsent, die 26-Jährige hätte wohl auch dort das scheinbar Unerklärliche zu erklären versucht: wie alles schlicht zu viel geworden sei, eigene und fremde Erwartungen, die Konkurrenz, die Nerven. Und dann komme sie sich auch noch dumm vor, dass sie sich das alles zu Herzen nehme - gebe es nicht viel schlimmere Dinge auf der Welt? Shiffrin hätte das vermutlich kaum getröstet, aber diese Dreiviertelstunde wirkte am Ende fast so wertvoll wie eine Olympiamedaille.
Der Fall der Spitzenturnerin legt offen: Immer noch sind Blockaden und mentale Probleme ein Tabu. Aber nicht nur im Turnen besteht die Gefahr, eigene Bedürfnisse zu unterdrücken. Kommentar von Volker Kreisl
Es ist einiges in Bewegung geraten in der Welt der Hochleistungskultur, die bei Olympia so grell im Licht steht wie sonst nie, im Guten wie im Schlechten. Der Mief des Machotums, keine Schwächen zu zeigen, verzieht sich langsam. Mentaltrainer verlieren das Stigma des Seelenklempners, den man heimlich aufsucht, wenn es nicht läuft. Immer mehr Athleten reden offener darüber, wie ihr Beruf sie auch verletzen kann. Die New York Times veröffentlichte zuletzt die Protokolle von mehr als einem Dutzend Wintersportlern, die den psychischen Zoll ihres Tuns umrissen: wie einen der Perfektionismus zerfressen kann; was es bedeutet, auf eine Chance hinzuarbeiten, die alle vier Jahre aufscheint; welche Wege sich der Druck auf dem Weg dorthin bahnen kann, bis hin zu Depressionen und Essstörungen. Und bei manchen vermutlich auch: hinein in den Betrug.
Anna Gasser, die Snowboard-Olympiasiegerin von 2018 aus Österreich, dankte dabei auch Simone Biles - der zweifellos erfolgreichsten Turnerin der Geschichte, die bei den Spielen in Tokio zuletzt aus dem Wettkampf ausgestiegen war, weil sie sich den Herausforderungen ihres Gewerbes nicht mehr gewachsen sah. "Das war ein Wendepunkt", sagte Gasser, "eine Botschaft, dass wir nicht nur Athleten sind, sondern auch Menschen und keine Roboter."