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Die Türen schließen sich, ihre Zeit verrinnt
Frankfurter Rundschau
Zum Abschluss des Filmfestivals Venedig: Ein Goldener Löwe für Audrey Diwans kompromissloses Abtreibungsdrama „L’événement“ und eine fulminante Weltpremiere von Ridley Scotts „The Last Duel“.
Weniger war mehr bei den besten Filmen im Wettbewerb dieser 78. Festivalausgabe. Auch der Jury fiel es leicht, dem Lauten und Plakativen, das sich in den letzten Tagen nach vorne gespielt hatte, Absagen zu erteilen. Unter den politischen Filmen im Programm hat schließlich der leiseste gewonnen. „L’événement (Happening)“ der Französin Audrey Diwan legt den Finger auf eine Wunde, die sich vor unseren Augen selbst in vielen Demokratien wieder öffnet – die überwunden geglaubte Kriminalisierung von Abtreibung. Die Chronik der verzweifelten Bemühungen einer jungen Frau im Frankreich des Jahres 1963, ihre ungewollte Schwangerschaft zu beenden, könnte sich im Texas des Jahres 2021 genauso wiederholen. In freundlichen Pastelltönen skizziert der Film zu Beginn den vielversprechenden Studienbeginn einer begabten jungen Frau aus der Arbeiterklasse. Wenig später stehen dieselben warmen Farben nur noch für eine Welt, die sich ihr verschließt. Weiter zu studieren als alleinstehende Mutter wäre in der damaligen Zeit kaum vorstellbar. Eine Abtreibung, für sie die einzige Option, aber würde alle daran auch nur mittelbar Beteiligten mit Gefängnis bedrohen. Ein scheinbar verständnisvoller Arzt verschreibt ihr ein Mittel, das in Wahrheit nur den Embryo stärken soll. Jeder weitere Schritt, den die junge Frau noch gehen kann, setzt sie der Gefahr aus, wenn nicht ihr Leben, so doch ihre Freiheit zu verlieren. In ihrer Verfilmung des gleichnamigen Berichts von Annie Emaux (in deutscher Übersetzung erst unlängst erschienen als „Das Ereignis“) dramatisiert die Filmemacherin nichts: die Türen schließen sich leise vor der Protagonistin, während ihre Zeit verrinnt. Freundschaften erstarren in Kälte, selbst wenn sie das Thema nur indirekt anspricht.More Related News