Die Stunde der Streitkultur
Frankfurter Rundschau
An den Grenzen der entspannten Weisheit: Über den Umgang mit unterschiedlichen Sichtweisen.
Wir leben in einer kulturellen Umbruchszeit. In rasanter Geschwindigkeit zerfällt, was bisher gewiss schien. Überkommene Wertorientierungen, Geschlechterrollen und Identitäten werden in Frage gestellt, neue Identitäten kämpfen um ihre Anerkennung. Wer kann mit welchem Recht noch beanspruchen, zu wissen, was als wahr, richtig, gut, fortschrittlich, nachhaltig gelten kann? Welche Sprech- und Verhaltensformen setzen sich durch? Wie viel politisch Unkorrektes ist noch erlaubt? Angesichts der Zerrissenheit der Orientierungen bietet sich eine scheinbar humane Einstellung an: Man sagt, der fruchtlose Streit der Meinungen beruhe darauf, dass jeder seine je eigene Sicht verabsolutiert und für wahr, die der Anderen aber für falsch hält. Doch es gebe keine „wahre“ (und entsprechend keine „falsche“) Sicht auf die Welt, nur unterschiedliche Sichtweisen. Und man rät: Klärt bei euren Auseinandersetzungen über Richtig und Falsch in Beziehungen, Politik oder Wirtschaft erst einmal, welche Ziele und Mittel in Rede stehen. Hört einander zu, fragt nach, was das Gegenüber gemeint hat, wägt ab, was die jeweils triftigeren Gründe sind. Zweifellos sind das vernünftige Ratschläge, auch wenn sie angesichts der massiven „Logik“ des Streitens, die sich im Privaten, mehr noch in öffentlichen Reden wie Parlamentsdebatten oder Interviews zeigt, zu kurz gegriffen erscheinen.More Related News