Die Sache mit der "Kriegstreiberei"
ZDF
Die USA warnen unermüdlich vor einem russischen Einmarsch in die Ukraine - und werden deshalb als Kregstreiber beschimpft. Eine Analyse.
Es ist ein surrealer Moment. Während ich diesen Text schreibe, höre ich durchs Fenster den Saxophonspieler an der M-Street in Georgetown. "Lean on me" tönt es durch die Straßen, die Menschen genießen den sonnigen Nachmittag. Einen Kilometer weiter steht der amerikanische Präsident bald danach einmal mehr vor den Kameras und spricht düstere Worte auf die Frage, ob Wladimir Putin sich noch nicht für den Einmarsch entschieden habe: "Zu diesem Zeitpunkt bin ich überzeugt, dass er seine Entscheidung getroffen hat. Wir haben Anlass, das zu glauben." Nachfrage: Sind Sie wirklich überzeugt, dass Putin einmarschieren wird? Biden: "Ja, das bin ich."
Es bleibt offen, was Biden mit "Anlass, das zu glauben" meint - abgefangene Kommunikation des Kremls, Quellen im Umfeld Putins, aber es ist fast egal, was er sagt: nicht wenige - auch in Deutschland - werden seine Worte wieder als Lügen und Kriegstreiberei bezeichnen.
Historisch gesehen ist das Misstrauen gegenüber der amerikanischen Regierung verständlich: Von der täglichen Desinformation im Vietnamkrieg, über die Täuschung der Weltöffentlichkeit zur Rechtfertigung des Einmarschs im Irak bis zu den hemmungslosen Lügen Donald Trumps zur Befriedigung seiner narzisstischen Bedürfnisse haben die USA alles geboten, was an ihrer Glaubwürdigkeit zweifeln lässt. Warum also sollte es diesmal anders sein?
Die Flut von Details aus dem Weißen Haus zum russischen Aufmarsch, zum Ablauf einer möglichen Invasion, zu inszenierter Gewalt und vorgetäuschten Provokationen, war - das kann ich nach drei Jahren mit Zugang zu Hintergrundbriefings durch hochrangige Regierungsmitarbeiter/innen sagen - noch nie so gewaltig wie jetzt. Genau das aber wäre selten dumm, wenn es dabei wirklich um die Wirkung in der Öffentlichkeit ginge. Denn die hält solche Frei-Haus-Lieferungen für eines der ältesten Rezepte aus dem Lehrbuch von Regimen, die ihre Macht auf Täuschung und Desinformation gründen. Das Weiße Haus wäre also besser beraten, so wenige Details wie möglich zu geben. Denn je konkreter, desto einfacher wären tatsächliche Lügen zu entlarven.
Wenn die konkreten Informationen aber stimmen, könnte der Rivale - in diesem Fall die russische Regierung – Rückschlüsse auf die möglichen Quellen ziehen. Ja, auch das würde man normalerweise für dumm halten, aber in diesem Fall ist es genau das Gegenteil: Denn der eigentliche Adressat ist derjenige, der genau weiß, ob es sich um Erfindungen des Weißen Hauses handelt. Die US-Regierung verbreitet alles, was ihre Nachrichtendienste mit ihrer Satelliten- und Luftaufklärung, ihrer Kommunikationsüberwachung und ihren menschlichen Quellen in der Region geliefert haben, WEIL Wladimir Putin ja weiß, was stimmt und was nicht; und WEIL die USA überzeugt sind, dass ihre Erkenntnisse stimmen.
Tatsächlich spiegeln sich zahlreiche Details, die das Weiße Haus verbreitet hat, an den Grenzen der Ukraine sowie im Donbass und auf der Krim wider. Eine ganze Reihe der Informationen ist mittlerweile durch Satellitenaufnahmen, Augenzeugenberichte, unabhängige Beobachter und mutige Journalisten vor Ort belegt. Richtig, die US-Regierung hatte den 16. Februar als möglichen Start der Invasion angegeben, weil es in abgefangenen Funksprüchen hieß, die russischen Kommandeure sollten für diesen Tag Einsatzbereitschaft herstellen. Aber dass der Einmarsch ausblieb, ist kein Beweis für eine Lüge.
Was, wenn die Information stimmte, und die Veröffentlichung den Plan platzen ließ? "Wir verbreiten Russlands Pläne laut und immer wieder nicht deshalb, weil wir einen Konflikt wollen, sondern weil wir alles in unserer Macht tun, um Russland jede mögliche Begründung wegzunehmen, um in die Ukraine einzumarschieren", so sagt es Joe Biden am Freitag,