Die Filme „Maestro“ und „Poor Things“ bei der Biennale in Venedig: Prunk und Anarchie
Frankfurter Rundschau
Höhepunkte in Venedig: Bradley Coopers „Maestro“, Timm Krögers „Die Theorie von Allem“ und Yorgos Lanthimos jüngstes Meisterwerk „Poor Things“.
Ein Anruf am frühen Morgen änderte das Leben von Leonard Bernstein für immer. Sein Einsatz als Ersatz für den erkrankten Dirigenten Bruno Walter gab Amerika eine erste Idee davon, dass man kein Europäer sein musste, um zu den besten dieses Fachs zu zählen . So beginnt Bradley Coopers Biopic „Maestro“, das beim Venedig-Festival in gewisser Weise an einen der besten letztjährigen Preisträger anknüpft: In Todd Fields „Tár“ präsentierte sich die von Cate Blanchett gespielte, missbräuchliche Dirigentin als angebliche Bernstein-Schülerin. Erstaunlich, dass man dem Weltstar der Klassik erst jetzt eine Filmbiografie widmet. Gerne würde man es damit erklären, dass seine einst regelmäßig wiederholten, moderierten Fernsehkonzerte einfach noch zu präsent wären, als dass sich ein Schauspieler in diese Rolle wagte. Für die musikalische Bildung war Bernstein damit in den 70er Jahren sicher so einflussreich wie die „Sesamstraße“ für die Alphabetisierung der Vorschulkinder. Aber zumindest im deutschen Fernsehen ist „Kultur für alle“ ja leider ein Fremdwort geworden.
In der in Schwarzweiß gedrehten ersten Filmhälfte präsentiert Cooper, der in seiner eigenen Inszenierung auch die Hauptrolle spielt, Bernstein mit eben jenem grenzenlosen Enthusiasmus und dem freundlichen, unautoritären Umgang mit den Orchestern. Doch dies ist nicht nur eine Liebesgeschichte gegenüber Musik und Publikum, auch eine private: Mit seiner Ehefrau, der Fernsehschauspielerin und Sängerin Felicia Montealegre führte der Maestro eine Künstlerehe auf Augenhöhe. Bis sich dann, und davon erzählt der farbige zweite Teil, seine homosexuellen Beziehungen nicht mehr unter den Teppich kehren ließen.
Da künstlerische und private Emanzipationsgeschichten selten synchron verlaufen, greift Cooper zu einer durchaus angreifbaren Parallel-Erzählung: Ebenso wenig wie sich Bernstein zwischen seinem kompositorischen und ausführenden Talent entscheiden wollte, scheint er in einer monogamen, heterosexuellen Beziehung ausgefüllt. Aber lassen sich künstlerische und sexuelle Orientierung überhaupt vergleichen? Kann man sich nicht vielleicht das eine aussuchen, das andere aber nicht? Bei aller wachsenden Toleranz gegenüber lange diskriminierten sexuellen Orientierungen ist unsere Gesellschaft noch weit davon entfernt Bisexualität zu akzeptieren. Der Makel potenzieller Untreue macht sie sowohl in der heterosexuellen wie der queeren Welt häufig suspekt.
Auch wenn die Parallele zu Bernsteins Identität als Musiker im Film nicht aufgeht, wirkt die Behandlung seines Liebeslebens doch durchweg seriös. Weit bedeutender aber ist Coopers „Maestro“ allerdings als Musikfilm. In einer radikalen Entscheidung sind ganz überwiegend Bernsteins eigene Kompositionen zu hören, die eine eigens komponierte Filmmusik ersetzen. Sie sind so in ihrer immensen stilistischen Bandbreite und vor allem ihrer hemmungslosen Emotionalität zu erleben. Cooper schlüpft dabei auch auf dem Podium unverwechselbar in die Rolle Bernsteins – und daran hat die vor der Premiere heftig umstrittene, aber durchaus überzeugende angeklebte Nase nur den kleinsten Anteil.
Auch für einen Filmemacher kann die Nachricht über einen plötzlichen Karrieresprung ganz überraschend kommen. Der in Berlin lebende Tim Kröger musste sich noch ein paarmal vergewissern, ob ihn das Festival am Lido wirklich in den Wettbewerb eingeladen hatte. Seit „Die Theorie von Allem“ am Sonntag am Lido Premiere feierte, kann daran kein Zweifel sein. Auch in der Geschichte um rätselhafte Begegnungen, einen vermeintlichen Todesfall und ein noch mysteriöseres Verschwinden bei einem fiktiven Physiker-Treffen im Jahr 1962 ist Gewissheit ein rares Gut.