Der queere Blick: Tentakel ausbilden
Frankfurter Rundschau
Ein Plädoyer für queeres Denken von Alexander Graeff
Ich werde häufig gefragt, was „queer“ bedeutet. Vor allem von Akteur:innen des Literaturbetriebs, die sich selbst nicht als lesbisch, bisexuell, trans, schwul, inter oder asexuell bezeichnen. Klar.
Einmal forderte mich ein Kritiker auf, über „meine queere Metaphysik“ zu schreiben. Ich würde den Begriff „queer“ ja so häufig verwenden und müsste daher doch im Kontext von Literatur auch über metaphysische Zugänge sprechen können. Das verwirrte mich. Waren es doch gerade die physischen Zugänge zum Denken, Schreiben und zur Literatur, die mich reizten.
Um hegemoniale und marginalisierte Perspektiven innerhalb von sozialen Machtverhältnissen sichtbar machen zu können, braucht es Begriffe für die von der Norm abweichenden Perspektiven. Diese gehen den Bezeichnungen für die hegemoniale und privilegierte Perspektive meistens voraus. Der Begriff „trans“ ist älter als der Begriff „cis“. Häufig bleibt die Norm mit ihrer Tendenz, bestimmte soziale Verhältnisse zu zentralisieren, unbenannt. Dadurch suggeriert die Norm, etwa die patriarchale Geschlechterhierarchie, eine gewisse Selbstverständlichkeit. Werden unbenannte Normen jedoch sichtbar und kritisch hinterfragt, enthüllen sich oft nur vermeintlich „natürliche“ Strukturen, auf die diese Normen bezogen sind.
Der Begriff „queer“ umfasst zunächst einmal nicht-heteronormative Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen, die ohne das Physische, die individuellen Körper, bloß leere Worthülsen wären. Dass hinter queerem Aktivismus immer konkrete Personen mit ihren Körpern stehen, wird in den medial gehypten Schlammschlachten zum Thema gern mal vergessen. „Queer“ ist neben dieser Repräsentationsdimension aber noch viel mehr. Vielleicht nicht unbedingt metaphysisch, kann und muss „queer“ doch auch philosophisch betrachtet werden, weil dieser Zugang in meinen Augen das Verständnis für den „queeren Blick“ auf die Welt erhöht. Einen Blick, der aufgrund der penetranten Grundierung unserer Lebenswelten durch die heteronormative Matrix traditionell ungeübt blieb. Und wegen dieser fehlenden Übung in Bezug auf soziale und kulturelle Überformung nicht-heteronormativer Perspektiven stellen die Menschen ja erst neugierige Fragen oder fühlen sich bedroht, schweigen oder schimpfen.
So unverzichtbar normative Ordnungsprinzipien im sozialen Miteinander auch sein mögen, bei mangelnder Reflexion dieser Prinzipien drohen sie, ideologisch zu verkrusten und Vorstellungen von Eindeutigkeit, Eigentlichkeit und Selbstverständlichkeit zu erzeugen, die wiederum auf nahezu jedes soziale Ereignis unbewusst zurückwirken. Wie konnte das passieren? Durch Erziehung, Sozialisation und die uns umgebende Kultur mit ihren Symbolen: Spielzeug, Schulbücher, Frisuren, Werbung, Toilettenschilder, Kopfbedeckungen, wiederaufgebaute Stadtschlösser, Kunst und Literatur. Der französische Schriftsteller und Soziologe Didier Eribon nennt diesen Mechanismus das „soziale Unbewusste“.