Der Maler Heinrich Vogeler in der Neuen Nationalgalerie in Berlin: Glücklos im gelobten Land
Frankfurter Rundschau
Heinrich Vogelers Traum vom Kollektiv starb in der kasachischen Verbannung. Seine sozialutopischen „Komplexbilder“ sind nun in der Neuen Nationalgalerie zu sehen.
Ein halbes Jahrhundert ist zu besichtigen in der gewaltigen Bilderschau zur „Kunst der Gesellschaft 1900 bis 1945“. Man kann sich in deutscher und europäischer Kunstgeschichte verlaufen, verlieren, vertiefen in der Berliner Neuen Nationalgalerie, die seit dem Spätsommer 2021 nach ihrer Rekonstruktion wieder offen ist. Darum fallen die kleinen Bilder im Sockelgeschoss des Mies-van-der-Rohe-Tempels nicht gleich auf. Und doch sind sie ganz anders als die benachbarten Motive von Dix, von Grosz und ihren Zeitgenossen, die Krieg und Gewalt zum Thema machten. Es sind Heinrich Vogelers „Komplexbilder“, 15 Visionen einer klassenlosen Gesellschaft malte der gebürtige Bremer (1872-1942), entstanden sind sie in der Sowjetunion.
Es sind expressive, kubo-futuristische Simultan-Kompositionen, die verschiedene Szenen innerhalb eines Bildes vereinigen. Die Bildflächen sind in prismatische Einzelfelder aufgesprengt. Darin ist – teilweise sich überschneidend – der Alltag zwar realistisch dargestellt, jedoch in variierter Perspektive. Das hier abgebildete Motiv heißt „Kulturarbeit der Studenten im Sommer“.
Die wie zu einem Patchwork zusammengefassten Szenen archaischer Landarbeit auf russischen Äckern hat der Maler gemischt mit der Utopie des technischen wie gesellschaftlichen Fortschritts. Den pathetischen Höhepunkt bildet eine Sonne, in deren Rund das Hammer-und-Sichel-Symbol einen Kolchos-Bauern golden überstrahlt. Der Bauer pflügt mit seinem kollektivierten Gaul und krummem Rücken die Erde des Ackers. Schwerstarbeit.
Dazu das Kollektive darzustellen, war Vogeler wichtig. Das besagen die Studentengruppen, unter den Augen der staunenden russischen Bäuerlein. Lernend, beratend, tüftelnd, gemeinsam mit Hacken und Schaufeln schuftend, das rote Banner schwenkend. Oder – romantisierend – in der Freizeit nackt am See. Unten im Bild sieht man derbe Stiefel und die klobigen Gerätschaften für die Feldarbeit. Ein modernes Attribut ist lediglich der auf Panzerketten rollende Traktor. Dazwischen die kyrillischen Buchstaben der Losung „Zusammenarbeit“.
Vogeler brachte den kräftezehrenden Einsatz für den Kommunismus in eine szenisch zusammengesetzte Erzählung. Fast so wie in jenen mittelalterlichen Volks-Bilderbögen für Leute, die nicht lesen konnten. Nach der Revolution 1917 hatte die russische Avantgarde um Majakowski und Malewitsch diese aufklärerische Methode wiederaufgenommen – in den propagandistischen Rosta-Fenstern sowie in den plakativen Lubok-Drucken. Vogeler, der 1923 erstmals die Sowjetunion bereiste, setzte das mit Inbrunst fort.