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Debatte zur Impfpflicht: Plädoyer für eine praktische Vernunft
Frankfurter Rundschau
Die theoretische Rationalität der empirischen Wissenschaften allein wird den Herausforderungen des Politischen nicht gerecht.
Gegenwärtig scheint es nur eine rationale Impfpolitik zu geben: eine allgemeine Impfpflicht in die Wege zu leiten. Rational will diese Impfpolitik sein, indem sie ihr politisches Handeln auf empirischem Wissen gründet: den wissenschaftlichen Evidenzen über den hohen Schutz der Impfungen vor Infektionen, ihre geringen Nebenwirkungen und die Höhe der aktuellen Impfquote, die zum Erreichen einer „Herdenimmunität“ nicht ausreicht. Wir kennen solch evidenzbasierte Politik nicht nur aus der Corona-Krise, sondern auch aus der Klima- und bereits aus der Finanzkrise. Erste Medienanalysen zeigen, dass die evidenzbasierte Corona-Politik auf breite Zustimmung gestoßen ist, während das Handeln der Regierung im Laufe der Krise zunehmen kritisch beurteilt wurde – und zwar oft mit dem Argument, dass sie der wissenschaftlichen Expertise widerspreche.
Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die evidenzbasierte Impfpflicht-Politik eigene Irrationalitäten generiert – die gerade im Widerspruch zu ihren Rationalitätsansprüchen stehen. Diese Irrationalitäten speisen sich aus einem grundsätzlichen Missverständnis des empirischen Wissens, das evidenzbasierte Politik in all ihren Spielarten bestimmt. Wenn aus den empirischen Evidenzen über die – auf Freiwilligkeitsbasis zu erreichende – Impfquote auf die Alternativlosigkeit einer Impfpflicht geschlossen wird, wird die Abstraktheit des empirischen Wissens unterschätzt.
Die für eine „Herdenimmunität“ erforderliche Impfquote wird mit komplexen Modellierungen berechnet. In den Verfahren der Modellierung wird Distanz zu den lebensweltlichen Kontexten und Weltanschauungen der Forschenden erreicht. Angestrebt wird ein Tatsachenwissen, das allgemeingültig, da wertneutral ist.