Das sind Bayerns Großbaustellen
Süddeutsche Zeitung
Rhein-Main-Donau-Kanal, Atomkraftwerke, Nationalpark Bayerischer Wald: Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Landschaft im Freistaat durch menschliche Eingriffe massiv verändert. Nur zum Negativen? Eine neue Publikation beschreibt die Projekte und ihre Folgen.
"Der Rhein-Main-Donau-Kanal wird dieselbe Bedeutung haben wie der Panamakanal und der Suezkanal. Und wer mir das nicht glaubt, der soll nachlesen bei Goethe." Wer sich als ältere Bayerin oder älterer Bayer noch an die hitzigen Debatten über dieses von Beginn an zutiefst umstrittene Vorhaben erinnert, weiß vielleicht, dass dieses Zitat von Franz Josef Strauß stammt. Mit diesen Worten trat der damalige Ministerpräsident 1986 den - zahlreichen - Kritikern entgegen, die es wagten, am Sinn dieser Wasserstraße zu zweifeln und vor der Landschaftszerstörung warnten, die mit den gewaltigen Baumaßnahmen einhergehen würde.
Strauß, der gerne mit seiner klassischen Bildung hausieren ging, verwies im Fortgang des Zitats dann darauf, dass Goethe schon in seinen Gesprächen mit Eckermann erklärte habe, dass eine der großen Leistungen der Menschheit in Europa die Verbindung vom Nordatlantik zum Schwarzen Meer sein werde. Weil er offenbar gerade in Fahrt war, erteilte der Landesvater auch den Nordlichtern gleich noch einen Ratschlag: Da nach dem Bau des Kanals die in Holland liegenden Rheinhäfen an Bedeutung gewinnen würden, müssten sich die an der Elbe- und Wesermündung liegenden Nordseehäfen wie Hamburg und Bremen schon "hart anstrengen", um konkurrenzfähig zu bleiben. Ziemlich von oben herab fügte Strauß abschließend hinzu: "Ich sage das nicht mit Polemik und nicht mit Gehässigkeit. Aber mir ist nun einmal die bayerische Jacke mindestens genauso nahe wie der deutsche Mantel, und im Übrigen sind wir ja doch Europäer."
Durch die riesige Baugrube sollten später Schiffe fahren: Die Arbeiten zum Rhein-Main-Donau-Kanal 1980 bei Leerstetten im Landkreis Roth.
Die Erwartungen, die man in Bayern in punkto Güterverkehrsaufkommen mit dem Rhein-Main-Donau-Kanal verband, haben sich bis heute nicht annähernd erfüllt. Stattdessen verweist die Staatsregierung gerne darauf, dass mit den vielen Touristenschiffen gewissermaßen Kaufkraft statt Kohle in die Region befördert werde. Zu diesem Schluss kommt zumindest der Geschichtswissenschaftler Dirk Götschmann in seinem Essay zur Genese dieser "Großschiffahrtsstraße". Die Abhandlung trägt den Titel "Jahrhundertprojekt oder Reinfall des Jahrhunderts? Rhein-Main-Donau-Kanal" und gehört zu insgesamt 15 Texten, welche das Haus der Bayerischen Geschichte in seinem HdBG-Magazin Nummer 7 mit dem Titel "Ois anders" versammelt hat. Sie alle beschäftigen sich mit Großprojekten in Bayern in der Zeit von 1945 bis 2020.
Mit dem Strauß-Zitat führt Götschmann nicht nur hin zum Gegenstand seiner Betrachtung, sondern er verweist zugleich auf eine Gemeinsamkeit praktisch aller im Magazin geschilderten Großprojekte: Nach dem Zweiten Weltkrieg, dem ein ungeheurer Modernisierungsschub folgt, sucht der einst bäuerlich geprägte Agrarstaat nach einer neuen Identität. Bayern ringt gewissermaßen um den ihm zustehenden Platz im Bund wie in Europa und der Welt. Dass solche Findungsprozesse oft mit Verunsicherung einhergingen und -gehen, überrascht nicht. Gerade Strauß dürfte dafür ein gutes Beispiel abgeben. Denn hinter seinen politischen Kraftmeiereien gegenüber dem Rest der Republik schienen sich nicht selten Minderwertigkeitsgefühle zu verstecken. Zugleich erinnert der Strauß-Auftritt daran, wie oft früher CSU-geführte Staatsregierungen Gegner und Kritiker ihrer Lieblingsprojekte in den Senkel zu stellen pflegten.