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Dagny Juel: Eine müde Lässigkeit der Bewegung
Frankfurter Rundschau
Sich friedlich im Bett liegend von der Welt zu verabschieden: Das ist nicht jedem vergönnt.
Dagny Juel war ein Ereignis, eine Erscheinung, ein Star und Fantasiegebilde. Edvard Munch, ihr Geliebter, versteckte sie im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts wohlweislich vor seinen Boheme-Freunden. Er ahnte, welche Wirkung sie auf seine Kumpane ausüben würde. Einige von diesen kamen aus dem Norden wie er, und Munch wusste, dass sie gerade in der verruchten Metropole mit ihrer pietistischen Vergangenheit aufräumen, alle moralischen und künstlerischen Hemmnisse hinter sich lassen wollten. Dagny Juel schien vor diesen antibürgerlichen Revoluzzern, die sich die Freiheit auf die Fahnen geschrieben hatten und dennoch einem präpotenten Männlichkeitsbild anhingen, nicht sicher. Munch war auf der Hut.
Mitte zwanzig war Dagny damals.
1867 wurde sie im norwegischen Kongsvinger in wohlgeordnete Verhältnisse hineingeboren; die Familie entstammte altem dänischen Adel, der Vater diente dem schwedischen König zeitweise als Leibarzt, wenn der sich in seiner Sommerresidenz in Kongsvinger aufhielt; ihr Onkel Otto Albert Blehr sollte norwegischer Ministerpräsident werden. Dagny sehnte sich als höhere Tochter nach Tiefe, und auch nach den Niederungen: Ihr Verhalten war schon in jungen Jahren eher extravagant, sie fühlte sich hingezogen zur Kunst. Als den Eltern klar geworden war, dass Dagny nicht leicht in standesgemäße Bahnen zu lenken sein würde, ließen sie die selbstbewusste junge Frau, die Musik machte und schrieb und die Literatur liebte, ziehen: Zunächst an die Königliche Musikschule nach Christiana, dem heutigen Oslo, wo sie Klavier studierte; sie muss eine äußerst begabte Pianistin gewesen sein. Dann ging es weiter nach Berlin, wo sie ihre Ausbildung fortsetzen und vor allem etwas erleben wollte. Ihr Jugendfreund Edvard Munch war schon da, man tat sich zusammen.
Verheimlichen konnte er seine Bekannt- und Liebschaft allerdings nicht allzu lange. Das Gerücht einer rätselhaften norwegischen Schönheit machte die Runde, man lechzte nach Aufregung und Neuem, und irgendwann führte Munch sie in die grelle Künstlergesellschaft ein. Ihr erster Auftritt muss ein wahrer Schock gewesen sein, eine Offenbarung, eine Erschütterung, eine Revolution. Es gibt etliche Zeugnisse davon, ihre Bewunderer dürften ihren Eindruck vom nordischen Weltwunder mit offenem Mund und bei zumindest flirrendem Verstand zu Papier gebracht haben: Sie nicht gesehen zu haben, ist vom Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe überliefert, sei der Verlust einer durch nichts zu ersetzenden Erfahrung. Ausgestattet sei sie mit den Formen einer Madonna des Trecento gewesen, mit einem Lachen, das die Männer rabiat gemacht habe. Den Absinth habe sie literweise konsumiert, ohne Anzeichen eines Rausches erkennen zu lassen. Im Rausch waren vielmehr die Herren Freigeister: „Sie war eine sehr zarte Königin, voll Übermut und tollkühner Frechheit und von einer knabenhaften Hoheit, die selbst im wüsten Taumel unverletzlich blieb.“ Der Schriftsteller Adolf Paul erkannte in ihr „eine schlangenhafte, müde Lässigkeit der Bewegung, die aber einen blitzschnellen Angriff vermuten ließ“. Sie war fortan das Objekt mancher Obsession und das Ziel erotischer Eroberungsversuche (einigen gab sie bereitwillig nach). Maler malten, Dichter bedichteten sie. Kinder wurden nach ihr benannt. Mehr als hundert Jahre später hat man den Eindruck, sie sei das einzige weibliche Wesen auf dem Berliner Planeten Bohemia gewesen. Der Bildhauer Gustav Vigeland bekannte: „Wir alle begehrten sie.“
„Laß sie in die Luft fliegen“