"Bittere Eskalation politischer Realität"
ZDF
Ex-Bundespräsident Gauck hat von Deutschland immer mehr militärische Stärke verlangt. Ein Gespräch über Putins Angriffskrieg auf die Ukraine.
ZDF: Herr Bundespräsident, wie haben Sie den Morgen des 24. Februar erlebt, als klar war: Putin greift die Ukraine an?
Joachim Gauck: Ich war erschüttert, obwohl ich das immer für möglich gehalten habe. Für mich war es keine Zeitenwende. Für mich ist das die bittere Eskalation einer politischen Realität. Putin hat sich über Jahre eine stabile Machtbasis als Autokrat geschaffen. Das war nicht alles auf einmal da. Aber mit den Aggressionen gegen die angrenzenden Gebiete Georgien, zuletzt die Krim, dann die Ostukraine, da war eine Eskalation nach außen hin zu sehen, die es auch nach innen gab.
Die freie Presse, die Opposition - all das wurde Schritt für Schritt verunmöglicht. Es gab politische Morde. All diese Dinge konnte man sehen, wenn man sie sehen wollte. Aber wir befanden uns eben immer noch in dieser Ära "post 1990". Wir dachten, jetzt sei alles geregelt, und wir gehen auf eine Epoche des Friedens zu. Wir dachten, unser demokratisches Modell sei ausreichend dominant. Diese Sorglosigkeit ist mit Putins Angriffskrieg obsolet geworden.
ZDF: Als der Kanzler in seiner Regierungserklärung am 27. Februar völlig überraschend ein Sondervermögen von 100 Milliarden für die Bundeswehr versprochen hat, saßen Sie auf der Ehrentribüne. Wie haben Sie diesen Moment erlebt?
Gauck: Ich saß dort im Bundestag und höre plötzlich, wie der Bundeskanzler Dinge verspricht und als Politik ins Werk setzt, wo ich dachte: ich träume. In diesem Moment wurde für die deutsche ausübende Politik tatsächlich eine Zeitenwende sichtbar.
Endlich wurde wieder begriffen, dass man, selbst wenn man Feindbilder scheut und ein Mensch des Friedens ist, nie so naiv sein darf, Feindschaft nicht als Feindschaft zu erkennen. Und diese Erkenntnis in geballter Form in einer Regierungserklärung zu hören, an einem kühlen Sonntag im Winter 2022, das war für mich eine ganz besondere Situation. So was erlebt man nicht oft im Leben.
ZDF: Die Folgen von Putins Krieg sind auch in Deutschland spürbar. Es geht um die Frage von Versorgungssicherheit, um gestiegene Preise. Müssen wir jetzt lernen, auf Wohlstand zu verzichten?