Betroffener redet über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche: „Nimm das und halt´s Maul“
Frankfurter Rundschau
Jürgen L. wurde als Neunjähriger von einem katholischen Pfarrer missbraucht. Heute ist er 67 und lebt in Frankfurt. Das Geld von der Kirche versöhnt ihn nicht.
Frankfurt – Neun Jahre alt war er damals und Ministrant in der kleinen Gemeinde im Main-Kinzig-Kreis, die zum Bistum Fulda gehört und wo er bei seiner Tante aufwuchs. Damals, als der Missbrauch begann.
„Ich war Vollwaise, meine Eltern waren bei einem Autounfall gestorben“, erzählt Jürgen L.. In der Schule hatte der Junge seine Schwierigkeiten, die Tante war überfordert und schickte den Neffen zur Nachhilfe. Zum katholischen Pfarrer. Der sich freundlich erbot zu helfen.
Was genau geschah, wenn er mit Pfarrer S. alleine war – das mag Herr L. auch heute, mehr als 50 Jahre danach, nicht erzählen. „Es ging eineinhalb Jahre, bis ich auf die weiterführende Schule wechselte“, sagt er. Niemand wusste davon, niemand durfte davon wissen, das hatte ihm der katholische Geistliche eingeschärft. Natürlich schon gar nicht die gottes- und kirchenfürchtige Tante. Und auch der Junge vergaß, was ihm widerfahren war. Jedenfalls weigerte sich sein Bewusstsein, sich daran zu erinnern. So blieb das, jahrzehntelang.
Das Gymnasium, auf das er gewechselt war, brach der Junge ab. Begann eine Ausbildung bei der Post. Trank. Mit 20 ein Suizidversuch. Trat aus der Kirche aus und wieder ein. Lernte Versicherungskaufmann. Arbeitete 20 Jahre in dem Beruf, wechselte in die Altenpflege. „Immer war ich auf der Suche nach etwas, meinen Wurzeln“, erzählt er rückblickend. Der Missbrauch schien weit weg, vergessen.
Bis zum Jahr 2008. „Ich war wegen Depressionen in Therapie, da tauchte das wieder auf, eine Sequenz, eindeutig“, berichtet er. 2010 dann begann die breite Diskussion über den Missbrauch in der katholischen Kirche, losgetreten von Pater Klaus Mertes, Rektor des Canisius-Kollegs, der den systematischen sexuellen Missbrauch an der Elite-Schule der Jesuiten öffentlich gemacht hatte.