Argentinien: Messi lässt die Inflation kurz vergessen
DW
Argentinien ist nach dem WM-Sieg im Ausnahmezustand. Balsam für die geschundene Seele des gespaltenen Landes. Der Fußball kann die Wirtschaftskrise jedoch nur für kurze Zeit vergessen lassen, aber keinesfalls heilen.
Mitte November, die Fußball-WM in Katar hatte noch nicht begonnen und nur die kühnsten Optimisten glaubten an ein argentinisches Fußball-Märchen mit Happy-End, wurden die Argentinier gefragt, was hnen denn lieber sei: ein Triumph der "Albiceleste" mit Kapitän Lionel Messi oder ein Ende der Inflation, die in Argentinien im Oktober bei 88 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat lag? Die Teilnehmer der Umfrage mussten nicht lange überlegen: neun von zehn Argentiniern hätten ein Ende der Geldentwertung dem WM-Pokal vorgezogen.
Vielleicht würden einige von ihnen jetzt anders abstimmen, denn der Triumph in Katar lässt die Inflation zwar nicht verschwinden, aber zumindest für einige Tage vergessen. Wenn die WM-Helden von Katar mit ihrem besten Fußballspieler der Welt den goldenen Pokal in den Straßen von Buenos Aires in die Höhe halten, müssen die Menschen für kurze Zeit nicht darüber nachdenken, ob sie im Supermarkt in Raten zahlen, welches Shampoo sie am besten horten und ob es nicht vielleicht doch Sinn macht, das Auto zu verkaufen. Ihren Galgenhumor haben sie am Río de la Plata jedenfalls nicht verloren: in den sozialen Netzwerken kursiert die Frage, ob der goldene Pokal wegen der Inflation nicht längst nur noch silbern sei.
Der Titel geht an ein Land, das nicht nur unter hohen Preisen ächzt und in dem fast jeder Zweite unter der Armutsgrenze lebt. Es ist auch ein Land, das gesellschaftlich tief gespalten ist zwischen Anhängern der Regierung um Präsident Alberto Fernández und seinem Vorgänger Mauricio Macri. Für einige Tage sind die Differenzen jedoch vergessen, das himmelblau-weiße Trikot streifen sich sowohl Anhänger als auch Gegner der Regierung über.
"Jetzt umarmen sie sich, weil niemand den anderen fragt, ob er 'Kirchnerista' oder 'Macrista' ist. Wenn gefeiert wird, geht es nicht um die soziale Klasse, nicht um das Geschlecht und auch nicht um Ideologien oder politische Positionen, "sagt Pablo Alabarces. In diesem Moment des Triumphes würden die Differenzen für einen Moment bei Seite geschoben.
Der Soziologe und Philosoph forscht über den Zusammenhang zwischen Fußball und Gesellschaft, sein Buch "Für Messi sterben? Der Fußball und die Erfindung der argentinischen Nation" ist zum Bestseller in den argentinischen Buchhandlungen geworden. Seine These: auch der "Messias" höchstpersönlich, ein Status, den Messi spätestens seit Sonntag in seiner Heimat innehat, kann dem Land nur eine kurze Verschnaufpause verschaffen. In Argentinien, seit Jahrzehnten auch Weltmeister im wirtschaftlichen Abstieg, folge nach den Feierlichkeiten garantiert der um so härtere Kater des Alltags. "Es gibt keinen anhaltenden positiven Effekt vom Fußball auf die Politik oder die Gesellschaft."