
Antonia Rados: Vielschichtiges Afghanistan
Frankfurter Rundschau
Fernsehreporterin Antonia Rados ist immer wieder an den Hindukusch gereist. Sie beschreibt die Umwälzungen in dem geschundenen Land - und ihren Arbeitsalltag. Ein Buchauszug.
Am 7. Oktober 2001 beginnt der Afghanistan-Krieg. Zuvor wurden die Verhandlungen mit den Taliban über die Auslieferung von Osama bin Laden abgebrochen. Die USA haben Artikel 5 des Nato-Vertrags, den sogenannten Bündnisfall, herangezogen, der im Falle eines Angriffes auf ein Mitglied alle übrigen zu den Waffen ruft. Zugleich soll Afghanistan in einen demokratischen Staat umgewandelt werden. Dazu wird im November 2001 eine UN-Konferenz in Petersberg bei Bonn anberaumt. Hier stehen unter anderem Frauenrechte im Mittelpunkt.
Mit der Taschenlampe in der Hand suche ich den Boden der verwahrlosten Villa, in der früher Gotteskrieger aus Pakistan gehaust haben, nach Glassplittern ab. Im Wohnzimmer daneben legt sich mein Kameramann bereits in seinen Schlafsack, und unser Fahrer wickelt sich in seine Decken. Ich darf dort nicht hin. Der magere Greis, der das Haus bewacht, besteht selbst in Zeiten des Umbruchs und der Unsicherheit auf Geschlechtertrennung. Dabei haben um uns herum waffenstrotzende, verwahrloste tadschikische Kämpfer die Nachbarhäuser von ehemaligen Taliban-Unterkünften besetzt, die sicher eine größere Gefahr für meine Sicherheit darstellen könnten als mein Kameramann. Den Alten kümmert das wenig, er hat mir sogar den einsichtigen Eingangsbereich der Villa zugewiesen, wo die Fensterscheiben zerborsten sind und der Boden mit unzähligen Glassplittern gespickt ist, die ich nun zu vermeiden versuche. Wenn der Mann wüsste, was wir hinter uns haben, wäre er sicher gnädiger gewesen.
Auf dem Wege von Pakistan nach Kabul blieb unser Wagen ausgerechnet kurz vor Sarobi liegen, wo am Vortag vier westliche Reporter, drei Männer und eine Frau, ermordet wurden. Wahrscheinlich von sich zurückziehenden Taliban. Wir sind mitten im muslimischen Fastenmonat Ramadan, und angeblich hatten die Ausländer, ohne Rücksicht dafür zu zeigen, geraucht. Ob das jedoch der eigentliche Grund für ihren Tod war, wird nie herausgefunden. Die Leichen, von zahlreichen Schusswunden durchsiebt, wurden neben einem VW-Bus auf einer Anhöhe nahe Sarobi von den Dorfbewohnern entdeckt. Wir wurden zum Glück von einem zufällig vorbeifahrenden Taxi aufgesammelt und sicher nach Kabul gebracht. Der Fahrer des Taxis vermittelte uns sogar an seinen Verwandten, den Wächter der Villa, den wir mit einem stattlichen Trinkgeld leicht überreden, uns aufzunehmen.
Wir planen, für eine Nacht hier zu schlafen und uns dann eine permanentere Unterkunft zu suchen. Das Viertel ist zumindest in Ordnung. Es befindet sich abseits der Hauptstraßen, wo man sich weniger beobachtet fühlt. Es dämmert bereits, als wir unser Gepäck ins Innere des Hauses schleppen. Schließlich gebe ich die Suche nach den Glassplittern auf, lege mich in meinen Schlafsack auf den kalten Boden und schlafe sofort ein.
Zu diesem Zeitpunkt, Ende November 2001, werden die Taliban aus Kabul gerade vertrieben und ziehen sich in die ländlichen Paschtunengebiete in Ost- und Südafghanistan zurück. Widerstand leisten sie kaum. Dies wäre angesichts der amerikanischen Übermacht auch Selbstmord, denn die US-Luftwaffe bombardiert seit vier Wochen unaufhörlich Stellungen der Taliban. Sobald deren Front im Norden zusammenbricht, stößt die proamerikanische Nordallianz aus Tadschiken und Usbeken vor. Dabei kommt es zu Massakern, doch die USA und Europa verschließen die Augen davor. Nun beherrschen diese Milizen die Hauptstadt – inklusive des gefürchteten Generals Abdul Raschid Dostum, dem man unzählige Gewalttaten zur Last legt. Der tadschikische General Mohammed Fahim will sich Kabul ebenfalls nicht entgehen lassen, daher sind seine Männer bereits in den Häusern rund um unsere verfallene Villa einquartiert.