
Antisemitismus-Vorwürfe gegen die Documenta – Indizien und Spekulationen
Frankfurter Rundschau
Sind die Antisemitismus Vorwürfe gegen die Documenta-Leitung gerechtfertigt? Ruangrupa und das Vertrauen in die Sprache der Kunst.
Der illiberale Geist der internationalen Boykottbewegung BDS, die sich die politische, wirtschaftliche und kulturelle Isolation des Staates Israel zum Ziel gesetzt hat, kann nicht in Zweifel gezogen werden. 2018 diente ein Reisekostenzuschuss der israelischen Botschaft von wenigen Hundert Euro zur Begründung für die Absage mehrerer Beteiligter am Berliner Festival Popkultur.
Bereits zuvor hatte die britische Band Radiohead einen sich über Monate hinziehenden Shit-storm über sich ergehen lassen müssen, weil sie auf der Durchführung eines geplanten Konzertes in Tel Aviv bestand. An der Kampagne gegen Radiohead beteiligten sich auch zahlreiche prominente Musikerkollegen, der BDS konnte in den vergangenen Jahren gerade auch auf starke Unterstützung aus Künstlerkreisen rechnen. Ein wesentliches Merkmal der BDS-Aktivitäten besteht denn auch in der Verschließung von Diskursräumen, der Aufruf zum Boykott kann jedenfalls kaum als Einladung zum ergebnisoffenen Gedankenaustausch missverstanden werden.
Aber sind derlei Kampagnen auch antisemitisch? Wer so fragt, hat sich bereits den Fliehkräften einer Hermeneutik des Verdachts ausgesetzt, unter deren Einfluss man sich kaum mehr unvoreingenommen anderen Lebensweisen und Gedankenwelten zuwenden kann. Genau das aber war die Idee, als die Documenta-Kommission das indonesische Kuratorenkollektiv Ruangrupa mit der künstlerischen Leitung der Documenta 15 betraute. Es war auch als Blick über den Tellerrand eines nicht zuletzt marktgetriebenen Kunstverständnisses aufgefasst worden.
Ruangrupa, die auch innerhalb des Kunstbetriebs bis zu ihrer Berufung weitgehend unbekannt waren, stehen seither nicht mehr allein für sich und ihre vom Prinzip der sozialen Intervention angetriebene Arbeit. Auf ihnen lastet vielmehr die Erwartung einer geopolitischen Erweiterung des Kunstsystems. Gemeinschaft und solidarisches Handeln anstelle eines auf Konkurrenz in der westlichen Welt ausgerichteten Betriebs lauten dazu die an Ruangrupa herangetragenen Formeln. Ein neues Spiel des alten Kapitels einer eingreifenden Kunst gegen puren Ästhetizismus?
Mit dem Vorwurf des Antisemitismus aber werden die Macher der Documenta fifteen, wie es nun in weltsprachlicher Anmutung heißt, von der Schärfe einer Debattenkultur erfasst, in der Indizien und Spekulationen scheinbar genügen, um das gesamte Unterfangen zu diskreditieren. Damit soll nicht abgelenkt werden von möglichen ideologischen Motiven, vor denen Künstlerinnen und Künstler gewiss nicht gefeit sind. Es ist beinahe naheliegend, dass in den Weltregionen, aus denen Ruangrupa künstlerische Impulse für die Documenta zu beziehen beabsichtigt, antiisraelische Einstellungen keine Seltenheit sind und erst recht nicht ohne Weiteres von antisemitischen Affekten unterschieden werden können.