
Andreas Maier: „Die Heimat“ - Ein schwarzes Kapitel, immer und überall
Frankfurter Rundschau
„Ortsumgehung“, die neunte: Andreas Maiers Roman „Die Heimat“
Zimmer, Haus und Straße. Ort, Kreis, Universität. Familie, Städte und nun, in Band 9: Heimat. Künftig: der Teufel, der liebe Gott. So betitelt Andreas Maier die elf Romane seines Zyklus „Ortsumgehung“. Bis auf einen, kargen alle Titel mit Silben. Zugleich fallen sie von Band zu Band universeller aus, von der engsten Umgebung des Kindes in die Weite, fast wie im „Faust“: vom Himmel durch die Welt zur Hölle oder Erlösung, wobei ein Wort wie „Kreis“ auch für eigene Kreise der Kunst steht und „Straße“ für erste Lieben.
Den Anfang machte „Das Zimmer“: das des geistig behinderten Onkels, den das Kind Andreas hasste, den der Autor aber für die Nachwelt rettete. Mit ihm fing der Schriftsteller noch einmal von vorn an: der Onkel verlangte es ihm ab.
Beim jetzigen Tempo lägen die elf Bände „Ortsumgehung“ fertig vor, wenn der 100. Jahrestag von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ansteht: das Urbild vielbändigen autofiktionalen Schreibens (1913-27). Karl Ove Knausgård etwa war deutlich fixer (2009-11). Bei Maier wären es 2027 siebzehn Jahre, dafür macht der Deutsche, nein: Wetterauer, durch Beharrlichkeit, Systematik, Universalisierung und den „Heimat“-Gedanken im Stil von Edgar Reitz‘ Filmepen manches wett. „Die Heimat“ ist übrigens Edgar Reitz gewidmet.
Das physische Buch beginnt mit Elvis Presleys Coverfoto als GI vor dem Burgtor von Bad Nauheim. Es ist in Pflaster- oder Mosaiksteine zerlegt. Manche stehen schief, lassen Lücken: legendäre Lokalvergangenheit, unvollkommen rekonstruiert. Maier lebt literarisch von Heimat, doch was sie ihm ist, gleicht einem Puzzle, oder wie es auf Seite 220 heißt: „Das ist meine Heimat. Das bin ich. Heimat ist ein schwarzes Kapitel, immer und überall.“
Noch mehrfach setzt er an, „Heimat“ zu definieren. Das Sich-Entziehen gibt dem autobiografischen Essay-Roman etwas Enzyklopädisches. Heimat scheint kein Ding an sich, sondern eine Reibung zwischen Ich und Nicht-Ich, die wie ein weißer Wal auf- und abtaucht und das Definitorische wie Begriffs-Harpunen mitreißt. Schon als Frankfurter Poetikdozent im Bändchen „Ich“ teilte er mit, dass ihm das Ich so wenig gilt wie das Nichts, in dem es sich versteckt. Heimat ist Nicht-Ich, „Ortsumgehung“ eine Ich-Umgehung. Maier wirft Heimat aus wie ein Flugzeug brennende Täuschkörper: um von sich abzulenken.