Ai Weiwei und Daniel Kehlmann über Ai Weiweis Autobiografie: Fantasie in Bewegung
Frankfurter Rundschau
Ai Weiwei und Daniel Kehlmann sprechen über „1000 Jahre Freud und Leid“.
Donnerstagabend, das Theater am Schiffbauerdamm in Berlin ist fast voll besetzt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so eng neben einer Unbekannten saß. Wir sind alle sorgfältig überprüft worden auf geimpft oder genesen. Wir alle tragen Schutzmasken, aber unsere geimpften Oberarme berühren einander. Der den Frankfurter Theatergängern gut bekannte Intendant Oliver Reese begrüßt das Publikum und erklärt: „Als der Penguin-Verlag fragte, ob Ai Weiweis Autobiografie ‚1000 Jahre Freud und Leid‘ hier im Berliner Ensemble vorgestellt werden könne, überlegte ich fünf Sekunden, bevor ich begeistert Ja sagte. Das Gleiche tat Daniel Kehlmann, als wir ihn baten, Ai Weiwei zu sich und seinem Buch zu befragen.“ Das ist natürlich Theater. Nicht den Bruchteil einer Sekunde hat er überlegt. Schließlich soll es die einzige Veranstaltung in Europa sein, auf der der jetzt wohl in Portugal lebende Ai Weiwei sein in 14 Sprachen übersetztes Buch vorstellt.
„Reese ab“ wie es in alten Schauspielen heißt. Auftritt Daniel Kehlmann und Ai Weiwei. Der 1975 in München geborene Schriftsteller ist seit seinem Longbestseller „Die Vermessung der Welt“ aus dem Jahre 2005 einer der weltweit bekanntesten deutschen Autoren. Er ist aufgeregt, hat einen Stapel Papier in der Hand. Der 1957 in Peking geborene Künstler dagegen ist die Ruhe selbst. Er sieht ganz so aus, wie buddhistische Weise auf chinesischen Gemälden es tun. Nur sitzt er in einem Sessel auf einer Bühne und nicht hineingetuscht in eine große Landschaft.
Es gibt keinen Moderator, keinen Übersetzer. Die beiden sprechen Englisch miteinander, und Kehlmann – mit Wilhelm Busch zu sprechen – „teilt uns das Nötigste mit“. Ai Weiweis Großvater befragte nach der Geburt von Ai Weiweis Vater einen Wahrsager nach dem Charakter des Kindes. Der sagte Schlimmes voraus. Das Kind wird daraufhin gegen Geld zu armen Bauern gebracht, die es aufziehen. Erst mit acht lernt Ai Weiweis Vater seine leiblichen Eltern kennen. „Was sagen Sie zu diesem Großvater?“, fragt Kehlmann. „China ist ein sehr altes Land“, antwortet Ai Weiwei, „was aber moderne Wissenschaft angeht, sind wir sehr jung. Der Aberglauben hat tiefe Wurzeln bei uns. Mein Vater war eines von sehr vielen Kindern, denen so etwas passierte. Ich sehe keinen Grund, meinen Großvater deshalb zu verurteilen.“