Afghanistans Not verstärkt Terror-Gefahr
DW
Die Taliban zwingen der Bevölkerung ihre Ideologie auf, können aber zur Linderung der Not nichts beitragen. Auf diesem Boden wächst neue Terror-Gefahr.
Die afghanischen Taliban haben unter anderem mittels blutiger Anschläge auf NATO-Truppen und deren Kabuler Verbündete, sowie auf Angehörige der Zivilgesellschaft, die Macht im Land übernommen. Nun müssen sie ihrerseits jener Terroristen Herr werden, die weiterhin Anschläge in Afghanistan verüben. Selbst die Bewohner von Kabul sind vor dschihadistischen Angriffen nicht sicher, wie ein Doppelanschlag mit zwei Autobomben im vergangenen November zeigte.
Im aktuellen UN-Bericht an den Sicherheitsrat von Anfang Februar, den das UN-Team zur Überwachung der Sanktionen gegen den IS und Al Kaida zusammengestellt hat, heißt es, Afghanistan könne nach dem Taliban-Sieg "potentiell zu einem sicheren Rückzugsort für Al Kaida und andere Terrororganisationen mit Verbindungen nach Zentralasien und darüber hinaus werden." Der IS-Ableger in Afghanistan ("Islamischer Staat in Chorasan", IS-K) kontrolliere zwar nur begrenzte Gebiete in Afghanistan, habe aber seine dauerhafte Fähigkeit unter Beweis gestellt, aufwendige Anschläge zu verüben.
Dem IS-K gehören dem UN-Bericht zufolge rund 4000 Kämpfer an, unter ihnen bis zu 2000 Personen ausländischer Staatsangehörigkeit, die nach der Öffnung der afghanischen Gefängnisse nach dem Taliban-Sieg in Freiheit gelangt seien. Der Großteil der Kämpfer rekrutiere sich aber aus den Reihen der Afghanen, vor allem solchen, die bis vor einiger Zeit noch den Taliban angehörten, sagt der Afghanistan-Experte Conrad Schetter, Mitglied im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Afghanistan (AGA), im DW-Interview.
Die Stärkung des IS-K gehe vor allem auf ehemalige Kämpfer der Taliban zurück, von denen sich viele nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im August 2021 den Dschihadisten angeschlossen hätten. "Diese Leute waren unzufrieden mit dem, was ihnen ihr Einsatz gebracht hat." Nach der Machtübernahme hätten den Taliban die Mittel gefehlt, ihre Kämpfer materiell oder durch einflussreiche Positionen zu belohnen. "So gab es viele junge Männer, die ihre Erwartungen nach dem Sieg enttäuscht sahen. So wurden sie auf den IS-K aufmerksam, der sie mit neuen Angeboten lockte", so Schetter, Autor eines im Mai erscheinenden Buchs über Geschichte, Politik und Ideologie der Taliban.
Ein weiteres Ereignis habe die Verbreitung des IS-K in Afghanistan begünstigt, so Schetter. "Sie fällt mit dem Zeitpunkt zusammen, an dem die Friedensverhandlungen in Doha begannen und ihren Abschluss mit dem Friedensabkommen im Februar 2020 fanden. In dem Moment, da die Taliban signalisierten, sie seien bereit, mit den Amerikanern zu reden, wuchs - das lässt sich auf Wochen und Monate genau rekonstruieren - der Islamische Staat in Afghanistan."