Afghanistan: Letzte Nachrichten ohne Antworten
Frankfurter Rundschau
Die Schreckensmeldungen überschlagen sich, doch für viele Menschen im Land war die Katastrophe längst da. In Kabul hofften sie auf ein besseres Leben, jetzt sitzen sie in der Falle. Eine Reportage aus der afghanischen Hauptstadt von Andrea Jeska
Wir sind verloren!“ Das war die Nachricht, die ein Freund am Sonntagvormittag aus Kabul schickte, als die afghanische Regierung eine friedliche Übergabe der Hauptstadt und der Regierungsgewalt an die Taliban bekannt gab. Was noch vor einer Woche unmöglich schien, die Einnahme von Kabul, war innerhalb von 24 Stunden Realität geworden. Gerade eine Woche zuvor hatte ich die Stadt verlassen und während meines Aufenthalts hatten alle, mit denen ich sprach, wieder und wieder versichert, Kabul sei uneinnehmbar. Zu viele Soldaten, zu viele Sicherheitsmaßnahmen, Straßenposten, militärisches Gerät. Und eine Bevölkerung, die sich wehren würde. „Wir haben Waffen“, hatten mir viele gesagt, „wir sind eher bereit zu sterben, als die Stadt den Taliban zu übergeben.“ Schon wenige Tage später war Kabul besiegt, fast ganz ohne Kampf. Es war die letzte Nachricht von dem Freund. Danach: Schweigen. Meine Antwort blieb ungelesen. Mehr als darum bitten, er solle die Stadt auf schnellstem Wege verlassen, sein Leben nicht riskieren, konnte ich ohnehin nicht. Solches Schweigen werden zurzeit viele Afghaninnen und Afghanen im Exil aushalten müssen, die versuchen, ihre Familien in Afghanistan zu erreichen. Und auch jene, die dem Land auf andere Weise verbunden sind. Im Internet sah ich mir Videos aus Kabul an jenem Tag an. Der Verkehr zusammengebrochen, ein endloses Geratter von Hubschraubern, die das Personal aus der amerikanischen Botschaft herausholten. Die Ereignisse haben all meine Recherchen in Kabul überholt, alle Medien kommen kaum noch hinterher. Herat eingenommen, Kandahar verloren, Masar-i-Scharif in den Händen der Taliban, eine Schreckensmeldung jagt die andere. Ich war nach Kabul geflogen zu einer Zeit, als die Taliban zwar Provinz um Provinz eroberten, aber man sich noch sicher war, die Städte könnten sie nicht einnehmen. Ich wollte unter anderem mit denen sprechen, die geflohen waren und in der Stadt in sogenannten illegal settlements, in slumartigen Ansiedlungen, leben.More Related News