80. Geburtstag von Wolfgang Hilbig – Paul Celans Bruder
Frankfurter Rundschau
Es ist an der Zeit, dass wir Leser erkennen, gleichgültig ob aus Ost oder aus West, dass Hilbig zu einem kanonischen Dichter geworden ist: Zum 80. Geburtstag von Wolfgang Hilbig.
An einem Tag wie dem heutigen drängt sich der Gedanke auf, dass die bedeutendsten Beiträge zur deutschen Lyrik in den Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit großer Wahrscheinlichkeit aus der Feder von zwei Dichtern stammen, die von der jüngsten Geschichte dieses Landes am unbarmherzigsten geschunden worden sind: von Paul Celan aus Czernowitz in der Bukowina und Wolfgang Hilbig aus Meuselwitz in der Nähe von Leipzig. Beiden Dichtern saß der Schrecken des Holocaust in den Gliedern, und beide sind zu Seismographen einer historischen Katastrophe geworden, die unsägliches Leid verursacht hat, und in der die besten geistigen Traditionen für immer dem Untergang geweiht schienen. Diesen Überlieferungen haben sie allen Widrigkeiten zum Trotz die Treue gehalten, und beiden ist einzigartige Sprachmacht zugewachsen, indem sie sich auf die Suche nach Spuren des Verschütteten begaben. Martin Opitz hat in seiner Biografie von 2017 Hilbigs Lebensgeschichte minutiös nacherzählt. Der Großvater, Kasimir Startek, stammte aus Ostpolen, war Analphabet und hatte sich auf der Suche nach Arbeit nach Meuselwitz begeben, wo er Lohn im Bergbau fand. Sein Vater war als Soldat 1943 bei Stalingrad als vermisst gemeldet worden und kehrte nicht mehr nach Hause zurück. In der engen Mietwohnung muss der Heranwachsende das ehemalige Ehebett mit der Mutter teilen, was für ihn ebenso sinnverwirrend wie peinigend ist. Die Erfahrung von Gewalt und Ohnmacht bestimmt seine Jugend. Wenn sein Onkel wüst die Töchter prügelt, erstehen Bilder von KZ-Wächtern vor ihm. Die Mutter, Verkäuferin zunächst und Sachbearbeiterin später, ist von der familiären wie allgemeinen Situation überfordert, tritt in die SED ein und bezeugt für den Sohn jene Sprachlosigkeit, die bleiern über der jungen sozialistischen Republik lastet und alles zu ersticken droht.More Related News