„Walk!“ in der Schirn Kunsthalle: Ein Gefühl von Freiheit
Frankfurter Rundschau
Er hat die Walking Art erfunden: Ohne Hamish Fulton würde es die Ausstellung „Walk!“ in der Schirn Kunsthalle wohl kaum geben.
Wir laufen hin und her, wie bekloppt. Nach links, rechts, drehen abrupt ab, laufen anderen vor die Füße. Wir gehen in Schlangenlinien, im Zickzack, vor und zurück. Wer uns zusieht, kann nur den Kopf darüber schütteln, wie wir wieder und wieder in unterschiedlichen Winkeln aufeinander zu, voneinander weglaufen. Was wir tun, ist vollkommen sinnlos. Oder besser gesagt, es folgt nur dem einen Sinn: Immer in Bewegung bleiben. „Walk in every direction“, hatte Hamish Fulton gesagt, und das taten wir, eine Stunde lang, auf dem Frankfurter Opernplatz in einem vorab definierten Karree. Unter uns: der Künstler selbst, flink wie ein Wiesel. Um uns herum: Demonstranten, Passanten, die unsere Wege kreuzen, nicht ahnend, dass sie soeben ins Zentrum einer Performance geraten sind.
„Walk!“ heißt die Ausstellung in der Schirn Kunsthalle, für die Fulton nach Frankfurt gekommen ist, und Walk ist das Zentrum seine Kunst. Seit knapp 40 Jahren tut er als Künstler im Wesentlichen das: laufen, gehen, wandern.
Fulton, der 1946 in London geboren wurde, variiert seine Wanderungen wie ein Maler, der Themen, Farben und Stilrichtungen ändert. Mal folgt er einem Flusslauf von der Quelle bis zur Mündung, mal läuft er die Alpen der Länge nach ab, oder er absolviert den knapp 200 Kilometer langen „Pilgrims Way“ von Winchester nach Canterbury ohne jeglichen Schlaf. Mal „erlaubt“ er sich, alles zu denken, mal zählt er die Schritte, um das Denken gezielt auszuschalten. Meist ist der Künstler allein unterwegs, manchmal braucht er die Hilfe von Bergführern. Gelegentlich macht er auch „public walks“, bei denen er Freiwillige animiert, zwei Stunden lang im Schneckentempo zu gehen. Oder in jede Richtung zu marschieren, komme was wolle.
Den unermesslichen Dimensionen des Universums setzt Fulton das menschliche Maß entgegen. Langsamkeit und Wiederholung sind Methoden, mit denen er den Blick für Details schärft – auch wenn man das auf dem Frankfurter Opernplatz zunächst nur unterbewusst wahrnimmt: Gesprächsfetzen der Vorbeilaufenden, Polizeisirenen, Geräusche von Schritten auf Steinboden. Man sieht die Menschen, erkennt sie irgendwann schon allein an ihrem Gang. Eine Frau trägt einen Geigenkasten auf dem Rücken, ein Mann schiebt einen Kinderwagen hin und her. Eine schleicht, einer durchmisst den Raum diagonal mit großen Schritten, eine andere schließt die Augen. Nach und nach verändert sich das Denken, wird – so will es einem scheinen – flexibler. Wir planen unsere Schritte nicht, wir lassen uns treiben, versinken in Gedanken – bis irgendwann etwas Eigenartiges geschieht: Ein Gefühl von Freiheit stellt sich ein. Es gibt kein Richtig, kein Falsch, alles ist gut.
Laufen hat einen massiven Einfluss auf das Denken und die Wahrnehmung, es schafft, so Fulton, „eine Empfänglichkeit für die Umgebung“. Für die Lebewesen, die einem begegnen, die Häuser, das Gras, die Insekten, den Wind. Ein entscheidendes Element des Laufens ist für Fulton die Selbst-Analyse: „Man konfrontiert sich mit sich selbst, seinem eigenen psychologischen Zustand.“