„Es ist besser zu fliehen, aber wir bleiben“: Eine Ukrainerin berichtet
Frankfurter Rundschau
Das Leid in der Ukraine nimmt mit jedem Tag des Krieges zu. Das Unvorstellbare wird für viele zum Alltag. Eine Ukrainerin berichtet.
Kiew/Netischyn – Seit zwölf Tagen tobt in der Ukraine ein Krieg*. Dieser Krieg wird mit Worten und mit Waffen geführt. Das Ergebnis sind Tod, Zerstörung, Flucht, Angst und Ungewissheit. Mariia Shuvalova, eine 28-jährige Wissenschaftlerin aus Kiew*, hat ihre Erlebnisse seit dem Angriff russischer Truppen auf die Ukraine mit unserer Redaktion geteilt.
Mariia arbeitet an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie und übersetzt nebenher Filme vom Englischen ins Ukrainische. Das tat sie auch am Tag vor dem Großangriff russischer Truppen auf die Ukraine. Sie übersetzte einen Bollywood Film aus Indien ins Ukrainische. Einen Krieg mit Russland konnte sie sich am 23. Februar trotz der Truppenzusammenziehung an der Grenze auf keinen Fall vorstellen. Und dennoch wachte sie, wie viele Menschen in der Ukraine, einen Tag später gegen fünf Uhr morgens mit dem Geräusch von Explosionen auf.
Mit ihrem Mann lebt sie in einem Haus in der Nähe des Flughafens Kiew-Boryspil. Aus Angst, dass die Fenster des Hauses durch nahe Explosionen zersplittern könnten, fixierte sie das Glas mit Klebeband. Irgendetwas musste sie tun, sagt sie. Sowohl Essen als auch Schlafen schienen unmöglich. Den ganzen Tag von der surrealen Geräuschkulisse naher Explosionen und dem Gefühl von Übelkeit begleitet, entschloss sie sich schließlich, mit ihrem Mann am Abend aus Kiew zu fliehen*. Denn das Haus, in dem sie wohnen, hat keinen Keller. Gegen 20 Uhr saßen sie im Auto, das sie wie in Trance mit den notwendigsten Dingen bepackt hatten. Zu dem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, wohin genau sie fahren sollen.
Mariia schrieb den ganzen Tag über Nachrichten – an Verwandte, Freunde, Bekannte. Am Abend zitterten ihre Hände so stark, dass sie kaum mehr tippen konnte. Sie schämte sich dafür, ihre Heimatstadt zu verlassen. Ihr Ziel war eine Kleinstadt, 300 Kilometer von Kiew entfernt. Dort kommen sie im Oblast Chmelnyzkyj in der Nähe der Stadt Netischyn bei Verwandten unter. Sie traut sich nicht, den genauen Ort zu nennen – die ukrainische Regierung empfiehlt, keine Aufenthaltsorte über das Internet preiszugeben. Auf dem Weg dorthin zählte Mariia vierzig Panzer. Alle fuhren sie in Richtung Kiew. Sie beginnt viel in diesen Tagen zu zählen: Explosionen, Hubschrauber und die Anzahl verbliebener Nudelpackungen*.
Das Haus, in dem sie nun untergekommen sind, nennt sie einen sicheren Ort, denn es hat einen gut ausgebauten Keller. „Ich glaube, dass wenn eine Rakete das Haus treffen sollte, würden wir überleben“, sagt sie grübelnd. Am zweiten bis neunten Kriegstag hörte sie stündlich Explosionen. Die Stadt, in der sie untergekommen sind, ist zwar nicht besonders groß, allerdings befinden sich dort zwei strategische Militärobjekte. „In der Stadt ist viel Militär, die ukrainische Armee schützt auch den Luftraum. Truppen aus Russland* versuchen immer wieder anzugreifen, aber die ukrainische Armee nutzt Flugabwehrmittel“. Vielleicht rühren daher die Explosionen, die sie hört – sie weiß es selbst nicht genau. Es ist genau dieses Gefühl des Mangels an Überblick, das besonders quält.