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„Aussteigen um 1900“: Schreiben, was Andere ausprobieren
Frankfurter Rundschau
Ein Kongressband begeistert für Literatur, die von Aussteigern begeistert ist. Von Ewart Reder
Im Anfang sprach Nietzsche. Dessen „Zarathustra“ inspirierte die Aussteigerbewegung um 1900 wie auch die Lebensreformkommune auf dem Monte Verità bei Ascona, so die These der Herausgeberin Barbara Mahlmann-Bauer. Nietzsches Kulturkritik, sein Rekurs auf die unterdrückte Körperlichkeit, sein Vitalismus und Wanderpredigergestus wirkten in der Tat auf viele, die zum „Berg der Wahrheit“ pilgerten. Gusto Gräser, der dort den radikalsten Ton anschlug, zitiert Nietzsche in Gedichten, durchwandert Teile Europas, schließt 1933 einen heiklen Frieden mit den Nazis.
Ida Hofmann dagegen, Gründerin des Sanatoriums, um das die Reformbewegung sopra Ascona sich scharte, spricht in ihren Schriften nirgends von Nietzsche. Kein Christentum, vielmehr die Naturferne des Industriemenschen ist für sie das Problem. Aussteigen heißt die Devise sowohl ihrer Lebensführung als auch ihres Schreibens. „Wahrheit ohne Dichtung“ nennt sie ihr Hauptwerk. Den Schreibkollegen Nietzsche und dessen im „Zarathustra“ imaginierte Höhlenexistenz lässt sie zwei Mal hinter sich, lebt an Luft und Licht und zieht ihr Schreiben aus der Fiktionalität zurück auf die Mitteilungsebene einer frühen Alternativszene.
Der Kongress „Aussteigen um 1900“ beschäftigte sich allerdings vorrangig mit ‚echten‘ Schriftstellern, Aussteigern per se, Solitären, die das Leben schreibend reflektieren und keine Zeit haben zum Parallelausstieg aus dem Elfenbeinturm. Hermann Hesse mit seinen längeren Aufenthalten auf dem Monte Verità ist da schon die Ausnahme. Yahya Elsaghe beschreibt den spannenden Weg Hesses von einer frühen Bachofen-Lektüre zu den mutterrechtlichen Ideen seines Romans „Demian“. Klar wird, dass das Thema untrennbar mit Hesses Biografie, insbesondere seiner ersten Ehe verbunden ist. Im Streit um die Kinder wird Noch-Ehefrau Mia sich bald auf das „Mutterrecht“ berufen – ironischerweise als entfernte Nachfahrin von dessen Erfinder Bachofen. Hesse selbst zieht sich spätestens im „Glasperlenspiel“ in eine ungestörte Männerwelt zurück – Ausstieg vom Ausstieg.
Emmy Hennings, die Ehefrau Hugo Balls, kommt in dem Band mit Briefen zu Wort, die sie vor allem an Hermann Hesse richtet. Dass der selten antwortet, stört Hennings nicht. Sie führt seit ihrer Jugend ein unstetes Leben, Irmgard M. Wirtz nennt sie eine „permanente Umsteigerin“. Später lebt Ball-Hennings am Lago Maggiore und doch nicht in Ascona. Ihr Ausstieg führt in eine private Welt der Beziehungen und Wörter, geteilt von ihrem Mann, umfasst von einem sich entwickelnden katholischen Glauben.
Das Schwergewicht des Kongressbands bilden acht Aufsätze zum Werk Hermann Brochs. Der Wiener Industrielle und spätere Autor verfolgte die Lebensreformbewegung interessiert, aber distanziert. Durch seinen Verleger, der die Eranos-Jahrbücher vom Monte Verità herausgab, wurde er bis in sein New Yorker Exil mit denselben beliefert. Die Spuren von Brochs Beschäftigung mit den Gedanken von Eranos-Heroen wie C.G. Jung oder Gershom Scholem sind spannend zu lesen. Sie führen quer durch das Romanwerk, vom Esch über „Die Verzauberung“ bis zum „Tod des Vergil“. Nur wer kennt diese Romane?