Die Erste
Süddeutsche Zeitung
Mit dem Booker-Prize für ihren Roman "Mädchen, Frau etc." wurde Bernardine Evaristo schlagartig weltberühmt. Jetzt erzählt sie die Vorgeschichte ihres späten Ruhms und verrät, was sie von Literaturpreisen hält.
Bernadine Evaristo ist freundlich und streng in ihrem Zoomfenster. Wenn sie eine Frage nicht beantworten will, verweist sie auf Zahlen: "Dazu gibt es bestimmt eine Statistik!" Sie lacht viel und herzlich. Auch und vor allem da, wo manche es unangebracht finden würden. Umso unangebrachter das Lachen, desto mehr Freude scheint es ihr zu bereiten. Sie kann es sich leisten.
Seit sie 2019 für ihr Buch "Mädchen, Frau etc." mit dem Man Booker Prize, dem neben dem Nobelpreis berühmtesten Literaturpreis der Welt, ausgezeichnet wurde, läuft ihre Karriere hervorragend. Und sie ist seitdem oft die Erste: erste schwarze Schriftstellerin, die den Booker je bekommen hat. Erste Britin of color an der Spitze der "Fiction Paperback"-Bestsellerliste. Als sie Präsidentin der Royal Society of Literature wurde: erste Autorin of color und zweite Frau auf diesem Posten. Außerdem ist sie Professorin für Kreatives Schreiben an der Brunel University London, spricht in der BBC zwischen Paul McCartney und Nicole Kidman. Seit 2019 sind ihre Bücher mit erstaunlicher Geschwindigkeit in den Kanon der international gelesenen Literatur geschossen - und das, obwohl ihr Durchbruch erst kam, als sie fast 60 Jahre alt war. Ihre neuen Leser haben ein ganzes Werk aufzuholen.
Dazu veröffentlicht sie jetzt ihre Memoiren, "Manifesto" heißt das erste Buch, das nach dem Booker Prize von ihr erscheint. "Ich habe es geschrieben, weil ich zeigen wollte, wie ich diesen Punkt als Autorin erreicht habe", erzählt sie: "Ich hatte vor zwei Jahren diesen wunderbaren Durchbruch. Ich wurde in vielen Interviews nach meinem Leben gefragt, und ich dachte, ein Memoir wäre der perfekte Weg, Menschen vorzustellen, wer ich bin."
"Manifesto" ist denn auch kein Manifest im eigentlichen Sinne, sondern Evaristos Lebensgeschichte. Sie wurde 1959 als viertes von acht Kindern in London geboren. Ihr Vater war ein Schweißer nigerianischer Herkunft, ihre Mutter eine weiße Grundschullehrerin, die von ihrer Familie geächtet wurde, als sie einen Schwarzen heiratete. Beide waren Aktivisten. "Sie haben mich zu dem gemacht, was ich bin. Ich bin Individualistin. Ich bin Aktivistin. Ich bin unkonventionell. Das waren sie auch, aber mein Leben ist ganz anders als ihres. Meine Mutter lebt noch, mein Vater starb vor 20 Jahren", sagt Evaristo.
Als Kind war das politische Engagement ihrer Eltern für sie völlig normal, erst jetzt, beim Schreiben der Memoiren, hat sie tiefer über die beiden nachgedacht. "Darüber, wer sie waren, als ich ein Teenager war. Mein Vater kam 1949 nach Großbritannien. Zu der Zeit wurden afrikanische Menschen als Wilde und Barbaren gesehen. Er hat die komplette Fremdenfeindlichkeit dieser Jahre abbekommen, aber er wurde ein Gemeindeaktivist. Er half Menschen aus der Arbeiterklasse, und zwar aller Ethnien. Wenn ich jetzt daran denke, dass er das jahrzehntelang tat, wächst meine Bewunderung für meine Eltern, umso älter ich werde."