„Sie töten uns wie Hühner“: Bei einem Massaker in Äthiopien sterben hunderte Amhara
Frankfurter Rundschau
Äthiopien kommt nicht zur Ruhe: Die Kämpfe unter den Völkern halten an.
Tole Kebele – Er allein habe 230 Leichen gezählt, sagt Abdul-Seid Tahir: „Und wir finden immer weitere Tote, die wir in Massengräbern bestatten.“ Inzwischen seien in Tole Kebele, einem Dorf im west-äthiopischen Wollega-Distrikt, Soldaten der Regierungsarmee aufgetaucht, fährt der Farmer fort: „Doch wenn die abziehen, geht das Morden weiter.“ Der Angriff am vergangenen Samstag sei der „blutigste Überfall auf Zivilisten“ gewesen, den er je erlebt habe: „Sie töten uns wie Hühner.“
Die Opfer sind allesamt Angehörige des Volks der Amhara, die vor rund 30 Jahren im Wollega-Distrikt angesiedelt worden waren – eine Region im Land der Oromo. In dieser Region sind die Kämpfer der „Oromo Befreiungsfront“ (OLF) aktiv, die gegen die unitarische Politik des äthiopischen Regierungschefs Abiy Ahmed ankämpfen: Sie wollen an einem starken föderalen Staat festhalten – mit weitgehendem Selbstbestimmungsrecht für die elf Provinzen. Deshalb macht die Regierung in Addis Abeba für das Massaker die OLF verantwortlich. Doch diese dementiert: Den Überfall habe eine mit der Regierung liierte Oromo-Miliz ausgeführt, meldet OLF-Sprecher Odaa Tarbii auf Twitter.
In Äthiopien ist derzeit alles möglich. Ausgerechnet die etwas moderateren Töne, die Premierminister Abiy in jüngster Zeit anschlägt, haben zu neuen Spannungen in dem ostafrikanischen Vielvölkerstaat geführt.
Abiy hatte im März einen Waffenstillstand in der aufständischen Bürgerkriegsprovinz Tigray verkündet und strebt erstmals seit Ausbruch der Kämpfe im November 2020 Friedensgespräche mit der Volksbefreiungsfront Tigrays (TPLF) an. Kürzlich stellte der Premierminister eine Delegation zusammen, welche die Gespräche mit der bislang als „Terroristen-Organisation“ verschrienen TPLF aufnehmen soll.
Zum Leidwesen anderer Konfliktparteien: Auf Abiys Seite die Streitkräfte des Nachbarstaats Eritrea sowie die Milizen der an Tigray angrenzenden Amhara-Provinz. Sie sind mit Abiys plötzlichem Friedenskurs nicht einverstanden: Sie wollten die TPLF vernichtet sehen. Zwischen Tigray und Amhara ist noch immer der Westen der Tigray-Provinz umstritten, der derzeit von Amhara-Milizionären und eritreischen Soldaten „besetzt“ gehalten wird. Die Region sei ihnen bei der Gründung des föderalen Staats vor mehr als 30 Jahren „gestohlen“ worden, klagen die Amhara. Sollte es tatsächlich zu Friedensgesprächen kommen, stünde der besetzte Westen der Tigray-Provinz ganz oben auf der Tagesordnung. Ohne seine Rückgabe wird es zu keinem Friedensschluss mit der TPLF kommen.